Nr. 47

30. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Frauen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Mit den Beilagen: Für unsere Kinder. Die Frau und ihr Haus

Die Glenbeit erscheint wöchentlich Preis: Bierzeljährlich 3,60 Mark

Berlin

Inferate: Die 5 gespaltene Nonpareillezeite 1,50 art,

20. November 1920

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Zuschriften find zu richten an die Redaktion der Gleichheit, Bertin SW 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Amt Morigplag 147 40 Expedition: Berlin SW 68, Lindenstraße 3

feit und Ehrgeiz eine Rolle spielen. Das Landesjugendamt

Zum Entwurf eines Reichsjugend- müßte gang beſtimmte Befugniffe erhalten, die ihm ein Ein­

wohlfahrtsgesetzes

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Von Henni Lehmann Göttingen Der Entwurf eines Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes ist Im Februar dieses Jahres fertiggestellt und wird voraus­fichtlich demnächst im Reichstage beraten werden. Wenn man auch der sozialen Grundempfindung des Entwurfs zu­stimmen fann, so werden sich doch Abänderungen in einer Reihe von Punkten nicht vermeiden lassen, falls tatsächlich der soziale Zweck im Interesse der Kinder und Jugendlichen erreicht werden soll. Der soziale Grundgedanke ist aus­gesprochen im ersten Satz des Entwurfs: Jedes deutsche Rind hat ein Recht auf förperliche, geistige und sittliche Er ziehung." Die Forderung ist uns Frauen eine selbstver ständliche. Daß sie bei einem reichsdeutschen Gesetz für beutsche Kinder ausgesprochen wird, wohl auch natürlich. Es würden nach einer späteren Bestimmung des Entwurfs für minderjährige Ausländer, die in Deutschland hilfsbedürftig werden, die Jugendämter Rechte und Pflichten der Armeen­berbände haben, d. h. es wäre zunächst zur Unterstüßung ver­pflichtet das örtliche Jugendamt, in deffen Bezirk sich der Minderjährige bei Eintritt der Hilfsbedürftigkeit befindet. Diese Pflicht wäre möglichst flar herauszustellen, damit hilfs. bedürftige Auslandskinder nicht etwa hin- und hergeschoben

werden.

Die öffentliche Jugendhilfe soll liberall da eintreten, wo der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird. Sie soll alle Maßnahmen zur Förderung der Jugendwohlfahrt umfassen, sowohl Jugendpflege, alfo die Sorge für die normale, schulentlassene Jugend, wie Jugendfürsorge , d. i. die Sorge für alle irgendwie gefähr­deten Jugendlichen von der Geburt, vom Säugling an, bis zum vollendeten 21. Lebensjahr. Zu diesem Zwede werden örtliche Jugendämter, Landesjugendämter, als Spitze ein Reichsjugendamt geschaffen. In den Landesjugendämtern werden die einzelnen örtlichen Jugendämter zusammengefaßt. In den Landesämtern sollen gemeinſame Richtlinien für die Arbeit der örtlichen Aemter aufgestellt und diese Arbeit sowohl durch Beratung, wie auch praktisch in verschiedener Weise gefördert werden. Insbesondere soll dem Landes­jugendamt Mitwirkung bei der Fürsorgeerziehung und der Unterbringung Minderjähriger zustehen. Auch soll es An­regungen für die freie Liebestätigkeit geben und ihr plan. mäßiges Busammenarbeiten mit dem Landesjugendamt und untereinander fördern. Diese lettere Aufgabe scheint mir bon befonderer Wichtigkeit. Wir haben an manchen Stellen eine wahre Anarchie auf dem Gebiete der Wohlfahrtsarbeit. Jeder will nur seinen Strang für sich ziehen und feine ge­meinsamen Gesichtspunkte gelten lassen. Dadurch entstehen Doppelunterstützungen, Austeilung von Unterstügung nach einseitigen religiösen oder politischen Gesichtspunkten, eine Wohltätigkeitskonkurrenz, bei der persönliche Malize, Eitel

fchreiten gegenüber solchen Auswüchsen ermöglichen. Da das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz im ganzen nur ein sogenanntes Nahmengejet darstellt, d. h. allgemeine Richtlinien gibt, nach denen die Landesgeseze ihre Bestimmungen zu treffen haben, so wäre die Feststellung solcher Befugnisse wohl Sache der Landesgesetzgebung. Das Reichsjugendamt soll dann wieder die allgemeinen Richtlinien für die Ausführung des Jugend­wohlfahrtsgesetzes aufstellen, den Landesjugendämtern Erfah­rungen übermitteln, bei der Erteilung von Reichszuschüssen mitwirken und in gewiffen Streitfällen Entscheidungen treffen. Die Mitwirkung für Bereitstellung von Geldern durch das Reich scheint hier eine der wichtigsten Aufgaben, denn bei der knappen Geldlage fast aller Kommunen, denen durch Uebergang der Einkommensteuer an das Reich ein wesentlicher Teil ihrer Einnahmen genommen ist, werden gerade für neue Wohlfahrtsausgaben die Mittel ganz fehlen, ja felbst zur Aufrechterhaltung der alten Einrichtungen bei der ständigen Preissteigerung oft nicht ausreichen.

Bon befonderer Wichtigkeit sind die Bestimmungen, die fich auf Mitwirkung im Vormundschaftswesen und auf den Schutz der Pflegefinder beziehen. Pflegefinder sind vor­wiegend uneheliche Kinder; daß diese der Aufsicht des Ju­gendamtes weitgehend unterstehen, ist selbstverständlich. Nicht so selbstverständlich ist vielleicht die Bestimmung, daß auch das bei der unehelichen Mutter befindliche Kind dieser Aufsicht untersteht und die Mutter von der Aufsicht widerruflich be­freit werden kann, wenn ihre Persönlichkeit die Gewähr für eine geeignete Pflege bietet. Man könnte auch den umge­fehrten Weg geben und die uneheliche Mutter, die ihr Kind bei sich hat, von der Aufsicht befreien, wenn nicht ihre Per­sönlichkeit zu stärkeren Bedenken Anlaß gibt. Die vom Ent wurf vorgeschlagene Fassung bedingt vielleicht einen weiter­gehenden Schutz des Kindes, zugleich aber eine stärkere Recht­losmachung der Mutter, und sie wird eigentlich dadurch zunt Teil überflüssig, daß das Jugendamt mit der Geburt des unehelichen Kindes nach dem Entwurf die Vormundschaft er­langen soll, also berechtigt ist, sich um das Kind zu fümmern.

Auch einen anderen Unterschied zwischen ehelich und unehe­lich fähe ich lieber fallen. Bei dem unehelichen Kinde soll die Vormundschaft einsetzen mit der Geburt des Kindes, in anderen Fällen nur bei Bestellung durch das Vormund­fchaftsgericht aus besonderen Gründen. Hier würde es im Interesse des ehelichen Kindes liegen, daß gleich ein Vor­mund vorhanden ist, der seine Interessen wahrnimmt, und nicht erst eine Beit vergeht, bis der Vormund bestellt ist. Wenn im Testament ein Vormund bestimmt ist, könnte dieser dann an Stelle des Jugendamtes treten, sonst müßte Sas Vormundschaftsgericht auf Antrag einen Einzelvormund be stellen. Diese Bestellung soll nach dem Entwurf ohnehin auf Antrag des Jugendamtes geschehen können, so daß für alle Fälle, in denen es wünschenswert ist, die Einzelvormund haft eintreten kann.