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Für unsere Mütter und Hausfrauen

die Binde gegossen hat, muß man zwischen den Ohren seines Gaules durchsehen und alles tun, was der Nebenmann tut. Der Marschall verweilte geraume Zeit bei verschiedenen Kavallerieabteilungen, die er attackieren ließ; aber ein oder zwei Stunden lang hatte unser Held kein Bewußtsein dessen, was ringsum geschah. Er fühlte sich sehr müde und fiel beim Galoppieren wie ein Stück Blei in den Sattel.

Plötzlich rief der Wachtmeister seinen Leuten zu:

Seht ihr nicht den Kaiser, Kerls!"

Unverzüglich brüllte der ganze Stab aus voller Kehle: ,, Vive l'empereur!"

Man kann sich denken, wie unser Held die Augen aufriß, aber er sah nichts als vorbeigaloppierende Generale, denen ebenso ein Stab von Reitern folgte. Die langen wehenden Roßhaarschweife, die die Dragoner des Gefolges auf ihren Helmen trugen, hinderten ihn, die einzelnen Gestalten zu erkennen. So habe ich den Kaiser nicht auf einem Schlachtfelde sehen können wegen dieser verfluchten Schnapstrinferei!" Diese Betrachtung machte ihn wieder gänzlich

munter.

Man ritt wieder in einen Hohlweg voller Wasser hinab; die Pferde wollten trinken.

Das war also der Kaiser, der vorhin vorüberritt?" sagte er zu seinem Nebenmanne.

" Na gewiß, der, der keine Stickereien am Rocke hatte! Hast du ihn denn nicht gesehen?" meinte der Husar gutmütig.

Fabrizzio hatte große Lust, dem Stabe des Kaisers nachzugalop= pieren und sich ihm anzuschließen. Welch großes Glück, den Krieg wirklich im Gefolge dieses Helden mitzumachen!" Darum war er ja nach Frankreich gekommen. Ich bin ganz mein eigener Herr," sagte er sich, denn an den Dienst, den ich jetzt tue, bindet mich nichts als eine Laune meines Pferdes, das just diesen Generalen nachgaloppiert ist."

Was Fabrizzio bestimmte zu bleiben, war der Umstand, daß die Husaren, seine neuen Kameraden, mit ihm freundlich waren; er begann sich für den Busenfreund all der Soldaten zu halten, mit denen er seit etlichen Stunden herumritt. Er sah zwischen ihnen und sich jene edle Freundschaft der Helden Tassos und Ariosts. Wenn er sich zum Stabe des Kaisers schlug, mußte er sich neue Kameradschaft erwerben; vielleicht würde man ihn gar scheel an= sehen, denn jene Reiter waren lauter Dragoner, während er Hu­sarenuniform trug wie alle Reiter im Gefolge des Marschalls. Die Art und Weise, mit der man ihn jetzt ansah, machte unseren Helden überglücklich; alles auf der Welt hätte er für seine Kameraden getan; seine Seele und sein Geist schwebten in höheren Regionen. Alles kam ihm anders vor, seit er bei Freunden war. Für sein Leben gern hätte er Fragen gestellt. Aber ich bin noch ein wenig betrunken," sagte er sich, ich darf die Ratschläge der Kerfermeisterin nicht vergessen."

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Als der Stab wieder aus dem Hohlwege herausritt, bemerkte er, daß der Marschall Ney nicht mehr da war. Der General an der Spitze des Trupps war groß, hager, falt im Gesicht und streng im Blick.

Schon lange hatte Fabrizzio die Erde nicht mehr in kleinen schwarzen Klumpen unter den aufschlagenden Geschossen hochspritzen sehen. Zuletzt kam man hinter ein Kürassierregiment; deutlich hörte er Kartätschenkugeln an die Kürasse schlagen und sah mehrere Reiter fallen.

Die Sonne stand schon sehr tief und ging zur Rüste, als der Stab aus einem Hohlweg herauskam und einen kleinen, drei bis vier Fuß hohen Abhang hinaufritt, um auf einen Acker zu ge­langen. Da hörte Fabrizzio ganz dicht neben sich ein seltsames Geräusch, er wandte sich um: vier Reiter waren mit ihren Pferden gefallen, auch der General war umgerissen worden, raffte sich aber wieder auf, ganz mit Blut bedeckt. Fabrizzio warf einen Blick auf die zu Boden geschmetterten Husaren; drei machten noch ein paar frampfhafte Bewegungen, der vierte schrie:

Hebt mich auf!"

Der Wachtmeister und zwei oder drei Leute waren abgesprungen und eilten dem General zu Hilfe, der sich auf einen Adjutanten stützte und einige Schritte zu gehen versuchte, um aus der Nähe seines Pferdes zu kommen, das sich rücklings auf dem Boden wälzte und mit den Hufen wild um sich schlug.

Der Wachtmeister kam auf Fabrizzio zu. Unser Held hörte, wie er hinter seinem Rücken in nächster Nähe sagte:

Der Gaul hier ist der einzige, der noch Galopp geht!" Er fühlte sich an den Beinen gepackt, man hob sie ihm hoch, während man ihm gleichzeitig den Körper unter den Armen stüßte, und zog ihn über die Kruppe seines Pferdes nach hinten hinunter. Dann ließ man ihn zu Boden gleiten, wo er sitzen blieb.

Nr. 22

Der Adjutant ergriff Fabrizzios Pferd am Zügel, der General saß unter Beihilfe des Wachtmeisters auf und ritt im Galopp weiter. Die übrigen sechs Reiter folgten ihm eiligst.

Fabrizzio sprang wütend auf und rannte ihnen nach mit dem lauten Rufe: ,, Ladri ! Ladri !"( Räuber! Räuber!) Es war lächer­lich, mitten auf einem Schlachtfelde Räubern nachzulaufen.

Bald war der Stab mit dem General hinter einer Weidenreihe verschwunden. Fabrizzio kam wutschnaubend ebenfalls an eine Baumreihe; er sah sich vor einem sehr tiefen Graben, über den er hinwegsetzte. Auf der anderen Seite fing er von neuem an zu fluchen, als er, freilich in sehr weiter Entfernung, den General und den Stab erblickte, die sich hinter Baumgruppen verloren.

Räuber! Räuber!" rief er wieder, jetzt auf französisch. Ver­zweifelt, weniger über den Verlust seines Pferdes, als über den Verrat, sank er am Grabenrand nieder, müde und halb verhungert. Wenn ihm sein schönes Pferd vom Feinde genommen worden wäre, hätte er nicht weiter darüber nachgedacht, aber sich beraubt zu sehen von diesem Wachtmeister, den er so geliebt hatte, und von diesen Husaren, die er gleich Brüdern geachtet hatte, das brach ihm das Herz! Er fonnte über so viel Niedertracht nicht hinweg kommen und, den Rücken an eine Weide gelehnt, begann er bitter­lich zu weinen. Er nahm allmählich Abschied von allen jenen schönen Träumereien von ritterlicher und erhabener Freundschaft, wie sie die Helden des Befreiten Jerusalem" übten. Dem Tod in das Auge zu sehen, war nichts, wenn man von heldenmütigen und feinfühligen Seelen umgeben ist, von edlen Freunden, die einem beim letzten Atemzug die Hand drücken! Aber wie fonnte er seinen Enthusiasmus bewahren inmitten gemeiner Spitzbuben! Fabrizzio übertrieb wie jeder empörte Mensch.

Nach einer Viertelstunde der Rührung nahm er wahr, daß die Kugeln bis in die Baumreihe schlugen, in deren Dunkel er grübelnd saß. Er erhob sich und suchte sich zu orientieren. Er betrachtete sich den Wiesenplan, der von einem breiten Graben und einer Reihe buschiger Weiden begrenzt war. Das fam ihm bekannt vor. Eine Infanteriemasse passierte den Graben und betrat die Wiesen, tausend Schritte von ihm entfernt.

Ich wäre beinahe eingeschlafen," fagte er zu sich, ich darf mich nicht gefangen nehmen lassen." Er begann tüchtig loszu­marschieren. Beim Näherkommen beruhigte er sich, er erkannte die Uniform; die Regimenter, von denen er gefürchtet hatte, abge­schnitten zu werden, waren französische. Er lief mehr nach rechts, um zu ihnen zu gelangen.

Zu dem seelischen Schmerz darüber, daß er so unwürdig ver­raten und geplündert worden war, kam ein anderer, der sich mit jedem Augenblick mehr fühlbar machte: er kam vor Hunger um. Darum war er höchst erfreut, als er nach zehn Minuten Marsch oder besser Laufschritt bemerkte, daß die Infanteriemasse, die auch sehr flott vorgerückt war, Halt machte, vermutlich um Stellung zu nehmen. Wenige Minuten später war er mitten unter den nächsten Soldaten.

,, Kameraden, könnt ihr mir nicht ein Stück Brot verkaufen?" Seht an, der hält uns für Bäcker!"

Dieses grobe Wort und das allgemeine Hohngelächter, das darauf folgte, gaben Fabrizzio den Rest. Der Krieg war also nicht mehr jener edle allgemeine Aufschwung ruhmliebender Seelen, wie er es sich nach den Proklamationen Napoleons eingebildet hatte! Er setzte sich oder vielmehr er sant auf den Rasen nieder. Er wurde totenbleich. Der Soldat, der mit ihm gesprochen hatte und der stehen geblieben war, um die Mündung seines Gewehres mit seinem Taschentuch abzuwischen, kam zu ihm und warf ihm ein Stück Brot hin; als er sah, daß er es nicht aufhob, steckte er ihm ein Stück davon in den Mund. Fabrizzio schlug die Augen auf und das Brot, hatte aber nicht die Kraft, etwas zu sagen. Als er den Sol­daten mit den Augen suchte, um ihn zu bezahlen, sah er sich allein; die nächsten Soldaten waren schon hundert Schritte weit im Vor­marsch. Mechanisch erhob er sich und folgte ihnen.

Er fam in ein Gehölz, nahe daran, vor Ermattung umzufallen, und suchte schon mit dem Auge einen geeigneten Flect. Wie groß war da seine Freude, als er erst das Pferd, dann das Wägelchen und schließlich die Marketenderin vom Vormittag wieder erkannte! Gie eilte auf ihn zu und war über sein Aussehen erschrocken.

Immer noch unterwegs, mein Jungchen?" sagte sie zu ihm, du bist wohl verwundet? Und dein schönes Pferd?"

Mit diesen Worten führte sie ihn an ihren Wagen, ließ ihn hinaufflettern und stützte ihn dabei unterm Arm. Kaum im Wagen, fiel unser Held, von Müdigkeit überwältigt, in tiefen Schlaf. Berantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Betlin( Sundel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bet Stuttgart .

Drud und Berlag von J. H. W. Dieg Nachf. B.m.b.. in Stuttgart .