Für unsere Mütter und Hausfrauen
Nr. 23 oooooooo
Beilage zur Gleichheit o
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Inhaltsverzeichnis: Der Roman des Proletariats. Von D. Wittner. Die Stubenfliege. Von Mar König. Für die Hausfrau Feuilleton: Hamza und Hanifa. Von Gustaf Janson. ( Fortsetzung.)
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Der Roman des Proletariats.
Von Otto Wittner.
Unter den großen Gattungen der Dichtung hat sich der Roman am spätesten entwickelt. Er entstand, als das Bürgertum im feudalen Staate sich als eigene Klasse zu fühlen begann, und ist seit= dem durch alle Wandlungen der Zeiten der getreueste Spiegel bürgerlicher Kultur gewesen. Nirgends läßt es sich eindringlicher nachweisen, daß die Entfaltung, Ausprägung und Verfeinerung des Individuums das eigentliche Kulturziel des Bürgertums gewesen ist, als in der Entwicklungsgeschichte des Romans. In den höchsten Formen, die der Roman in Deutschland bis jetzt gefunden hat, ist er sogar ausschließlich die Darstellung einer sich bildenden Individualität gewesen.
Aber auch der Noman steht nun an der Zeitenwende. Die bürgerlichen Jdeale sind verschlissen, wie im Leben, so in der Kunst. Die Revolution des Naturalismus gegen die abgestandene überlieferung war vornehmlich ein tatkräftiger Versuch, neue Ziele aufzurichten. Und dieser Versuch ward nirgends mit größerer Kraft geführt, als eben im Roman. Der naturalistische Zustandsroman mit seiner breiten Schilderung der Umwelt und ihrer wirkenden Kräfte war der Beginn der Auflösung jenes bürgerlichen Individualismus. Die der neuen Anschauung zugrunde liegende Logik besagt nichts Geringeres, als daß das gesellschaftliche Sein das individuelle Bewußtsein bestimme. Seinem Wesensgehalt nach ist der neue Roman dem alten genau so entgegengesetzt wie der bürgerlichen individualistischen Geschichtsbetrachtung der historische Materialismus.
Natürlich mußte sich die neue Anschauung auch neue Stoffe suchen, an denen sie sich betätigte. Anfänglich war ihr die in Zersetzung befindliche Welt des Handwerkertums am meisten gemäß. Denn hier erwies sich eben am deutlichsten der unentrinnbare Einfluß des gesellschaftlichen Seins, die Unzulänglichkeit und Beschränktheit des Individualismus. Doch andererseits fehlte es hier am positiven Ziele. Die Zertrümmerung der alten Jdeale schuf noch keine neuen. Vollendet war der Umlauf erst, als an die Stelle fleinbürgerlicher Schicksale Gestalten aus der Klasse traten, die ihrer Natur nach diesem Individualismus schroff entgegengesetzt ist. Nach der Theorie führt auch die Praxis den modernen Roman und das moderne Proletariat zusammen.
Das große Beispiel Bolas wies zuerst diesen Weg. Wie er den torbildlichen naturalistischen Roman geschaffen, mit breitester Ausmalung alles Zuständlichen; wie er den Zusammenbruch des Kleinbürgertums unter der Konkurrenz der Großbetriebe mit viel größerer Wucht und Eindringlichkeit geschildert hat als seine Schüler und Nachahmer: so hat er auch seine Kunst den Zielen und Gedanken des Proletariats geöffnet. Aber, sehr bezeichnend, während Zola sonst mit größter Kraft die Geschicke unmittelbar aus den Zuständen herauswachsen läßt, mußte er hier äußerliche Verknüpfungen flechten. Die Ehe des Helden der Arbeit" wird zu einer finnbildlichen Verbindung der Intelligenz mit dem Proletariat. Der Naturalist steigert die Natur über sich hinaus, um uns in die neue Gesellschaft hinüberzuführen, über der die freundliche Sonne Utopias leuchtet.
Ein zweiter Borstoß in der Richtung auf den Proletarierroman wurde in Rußland gemacht. Magim Gorki hat nicht den Weg durch theoretisch- literarische Auseinandersehungen und Kämpfe sich gebrochen. Er ist selbst ein Teil des Proletariats, dessen Lebensnöte er bor uns ausbreitet. Gorkis Romane sind so viel unmittelbarer aus dem Proletariat herausgewachsen als das gewaltige Werk Bolas; Bela ist doch immer und von Anfang an der intellektuelle Schriftsteller. Gorki, der nicht durch eine starke literarische überlieferung gebunden ist und auch Gegensatz ist Bindung, ist der Proletarier, der cm bewußten Erlebnis seines Seins zum Dichter wird. Dieses Sein aber war das Los des„ Barfüßlers", das ist desjenigen Proletariers, der sich der Enge und dem Zwange der herrschenden Ordnung durch Landstreicherei widersetzt und entzieht. In meisterhaften Novellen gab Gorki Episoden aus dem bunten und wechselbollen Leben des Barfüßlers, das reich an Freiheit und Ent
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о 1913
behrung ist. Inzwischen war aber mit dem Wachstum der fapitalistischen Industrie und dank der Propaganda der Sozialdemofratie in dem Barenreich ein modernes, klassenbewußtes Proletariat erstarkt, das die Triebfeder der Revolution wurde. Unter ihrem heißen Hauche verwelkte das Jdeal des Barfüßlers, und an seine Stelle drängte sich in den Mittelpunkt der Gorkischen Kunst der sozialistisch aufgeklärte Proletarier, der den Fesseln der kapi talistischen Gesellschaft sich nicht durch Flucht auf die Landstraße zu entziehen, sondern der sie Schulter an Schulter mit seinen Arbeitsbrüdern in organisiertem Kampfe zu sprengen sucht. Aber freilich schöpfte Gorki nun nicht mehr unmittelbar aus dem Quell des Selbsterlebten, der seiner Kunst bis dahin ihre überzeugende Natürlichkeit verliehen hatte. In dem Roman„ Die Mutter " schildert Gorki , wie die Mutter eines Fabrikarbeiters sich an den Taten ihres Sohnes langsam zur überzeugten Sozialistin heranbildet. Die arme, fleine, geduckte, demütige Frauenseele richtet sich auf, getroffen von der Wärme eines neuen Lebensinhaltes; über das berprügelte, müde, frühverwelfte Weib kommt allmählich der Glaube an eine bessere Zukunft. Die Mutter begreift anfangs gar nicht, was ihr Sohn und seine Genossen wollen, fühlt nur bitter, daß da etwas zwischen ihr und dem einzigen geliebten Kinde steht. Sie sieht ganz einfach mit dem naiven Empfinden der Frau aus dem Volke: es sind doch gute, heitere, schlichte Menschen, Menschen, die leiden. Und da weiß sie es, daß auch gut sein muß, was diese Menschen wollen. Durch diese Bresche zieht der sozialistische Gedanke in ihr Herz ein und ergreift Besit. Und die Mutter reift nach und nach für die Tat. Tapfer tritt sie der Polizei entgegen. Sie trägt Druckschriften in die scharf überwachte Fabrik. Sie fährt über Land, den Genossen da draußen Botschaft zu bringen. Bei allen Aufzügen und Versammlungen steht sie hinter ihrem Sohne, flolz leuchten ihre Augen, so oft sein Name genannt wird. Und sie stirbt für die Sache den Tod....
Aber auch Gorkis Roman ist doch nur Episode. Ein so rührendes Sinnbild diefe Mutter ist, keineswegs ist sie Vertreterin des Prole= tariats. Gorkis Dichtung ist zwar aus dem Geiste des Befreiungskampfes der Masse empfangen, sie gibt aber eines nicht, die Masse selbst und ihren Weg. Dieser dichterische Stoff konnte und durfte nur in ganz großem Stile organisiert werden. Und nun ist auch der Dichterorganisator aufgestanden. Es ist der Däne Martin Andersen Nerö , und sein Werk heißt Pelle der Eroberer".( Roman in zwei Bänden. Leipzig 1912, Inselverlag. Preis 8 Mt. Der Roman ist ferner zu demselben Preis in die Nordische Bibliothek des Verlags Georg Merseburger, Leipzig , übernommen worden, in der auch die übrigen Werke Nerös erschienen sind.)
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Wie Gorki war auch Nerö Wanderer und Arbeiter, und wie der Russe ist auch der Däne zuerst durch Skizzen und knappe Schilderungen aus diesem Wanderer- und Arbeiterleben bekannt geworden. Aber Gorki, der Realist, weist starte romantische Büge auf, er moralisiert nicht selten, und ein wuchtiges Pathos sucht Ausdruck in Sinnbildern und gibt etwa der Schilderung einer Arbeitsstunde im Hafen von Odessa eine eigene Größe. Nerö iſt weit nüchterner, er läßt sich niemals von der Leidenschaft überwältigen und weicht vor solchem Andrang des Blutes lieber aus zur flaren Ruhe der Jronie. Aber diese überlegte und überlegene Kühle ist wohl die Eigenschaft, die dem Organisator am notwen digsten beim Werke ist.
Indem Nerö uns die Geschichte Pelles erzählt, des armen Hütejungen von Bornholm , gibt er uns die Geschichte des Proletariats und seiner Bewegung. Allerdings und selbstverständlich so, wie es ein Dichter geschaut, der bodenständig dänisch ist. Infolge dieser nationalen Gebundenheit trägt Belle als Jdeal die typischen Züge der Arbeiterbewegung in Dänemark . Ohne daß etwas fünstlich zurechtgestellt wird oder nach der Art älterer Kunstübung der Dichter sich mit breitspurigen Auseinandersehungen einmengt, wächst Pelle aus seiner unmittelbaren Erfahrung die neue Erkenntnis zu vom Wesen der bürgerlichen Gesellschaft, von der wahren Stellung des Arbeiters in ihr. Aber dieses individuelle Erleb= nis ist das allgemeine Schicksal proletarischer Schichten, die neu in den Strudel des kapitalistischen Produktionsprozesses hineingerissen werden. Von weit außerhalb kommt Belle, von Bauernland, wo noch fast ausschließlich für eigenen Bedarf geschafft wird. Heimlos geworden, findet er von hier aus den Weg über See als Hütejunge beim Großgrundbefizer. Eine tätige, auf sich selbst ge