Nr. 11
Für unsere Mütter und Hausfrauen
Schweres zugefügt, der es nie verstanden hatte, sie vor Sorgen und Überanstrengung zu schüßen. Offen bekannte er, daß er und seine Verwandten ihr Wesen nur nach Äußerlichkeiten und Unwesentlichem beurteilt hatten. Sie hatte nun alles erreicht, wozu er sich in seiner Jugend berufen gefühlt hatte. Sie brachte den bekannten Namen Dietrich zu neuen Ehren. Nach ihr waren viele Pflanzen und Tiere benannt worden, die vordem der wissenschaftlichen Welt unbekannt waren. Der letzte Brief Dietrichs an seine Gattin war ein Abschiedsgruß in Harmonie und Dankbarkeit. Sie erhielt bald darauf die Nachricht von seinem Tode. Wie sie sein Andenken in Ehren hielt, das zeigen die Briefe an ihre Tochter, die wahre Dokumente treuer Mutterliebe sind. Nichts von Rührseligkeit, nichts von Weichlichkeit enthalten diese Briefe. Die Schwäche im Charakter des Vaters bekämpft fie energisch bei der Tochter. Diese soll ein starker, kampfes= mutiger Mensch werden wie sie selbst. Sie hatte erkannt, daß das Beste und Höchste im Leben des Menschen diesem nicht mühelos in den Schoß fällt, sondern daß er es in stetem Ringen und Kämpfen erwerben muß. Das Beispiel lebte sie praktisch, daß ein Mensch sein heißt, ein Kämpfer sein. Nach wie vor arbeitete Amalie Dietrich unermüdlich im Dienste der Wissenschaft. Von Brisbane war sie nach Port Makay gewandert. Die Eingeborenen hielten die europäische Forscherin oft für eine Zauberin und bedrohten ihr Leben. Nach und nach aber gewann sie ihr Vertrauen und erhielt von ihnen allerhand seltene Waffen und Gerätschaften. Dafür gab sie den Eingeborenen Tabak, Pfeifen, Mehl, Spiegel und namentlich bunte Farben, woran diese eine besondere Freude hatten.
In Deutschland wurde man mehr und mehr auf die merkwürdige Frau aufmerksam und bewunderte ihre Gelehrsamkeit. Der Entomologische Verein in Stettin ernannte Amalie Dietrich zu seinem ordentlichen Mitglied. Auf der Gartenbauausstellung in Hamburg erhielt sie für ihre Sammlung australischer Hölzer die Goldene Medaille. In dem Diplom heißt es:„ Diese aus fünfzig Blöcken in halber Stammesdicke bestehende Sammlung ist in ihrer Art ein Unifum und wurde von der seit Jahren den Nordosten Australiens bereisenden, unerschrockenen Frau Amalie Dietrich zusammengebracht." Fast ein Jahr lebte die Naturforscherin in einer Ansiedlung, in der nur ein Sattler, ein Gastwirt und eine Familie Hesse wohnten. Die verschiedenen Moose und Algen, die sie von dort nach Hamburg sandte, wurden wieder nach ihrer im Dienste der Wissenschaft ebenso eifrigen wie mutigen Entdeckerin" genannt. Hier in der Einsamkeit widerfuhr es der schwergeprüften Frau auch seit langer Zeit zum erstenmal, daß sich jemand um ihr persönliches Wohl in treuer Fürsorge annahm, wie es Frau Hesse tat. Ihre Arbeit war ihr nun auch erleichtert, da Godeffroy zwei Gehilfen angestellt hatte, die aber auf seinen ausdrücklichen Wunsch sich den Anordnungen der Frau Dietrich zu fügen hatten, der eigentlichen Leiterin des Unternehmens. Von Sydney aus ging Frau Dietrich nach den Südseeinseln, wo sich ihr wieder eine neue Wunderwelt erschloß. Hier empfingen sie sowohl die Eingeborenen wie der König von Tongatabu mit großer Freundlichkeit. Der König schenkte der europäischen Frau sogar seine Photographie, und von der Königin erhielt Amalie Dietrich eine Pomadenbüchse, die kunstvoll aus einer Frucht gearbeitet war.
Die Reise nach den Südseeinseln war Amalie Dietrichs letzte Forschungsreise. Am 4. März 1873 nach zehnjähriger Abwesenheit, tehrte sie nach Hamburg zurück. Diesem Tag hatte sie sich entgegengesehnt in all den Stunden grenzenloser Einsamkeit. Ihn zu er= reichen, hatte sie unermüdlich gearbeitet, und nun sollte auch dieser Tag der so vielgeprüften Frau wieder eine Enttäuschung bringen. Sie hatte ihr heißgeliebtes Kind in Erinnerung als ein zärtliches anschmiegendes Wesen, dem die Mutter alles war. Nun trat ihr eine erwachsene junge Dame entgegen, in der sie die Tochter faum erkannte. Und auch für Charitas war dieses Wiedersehen eine Ent täuschung. Was hatte das Leben in Kampf und Einsamkeit aus der einst so rüstigen Amalie Dietrich gemacht! Eine alte Frau war sie geworden mit gekrümmtem Rücken. In ihr pergamentartiges, verwittertes Gesicht hatte das Schicksal tausend Falten und Fältchen gezeichnet. Die einst dunkeln vollen Haare waren dünn und weiß geworden. Charitas hatte sich an die Eleganz der reichen Hamburger Patrizierhäuser gewöhnt. Ihre Mutter trug ein dürftiges Röckchen und eine dunkle Kattunjacke. An den Füßen hatte sie alte graue Segeltuchschuhe, die vielfach Löcher zeigten. Ihre Stimme, die fast das Sprechen verlernt hatte, klang fremd und tief. So erschien Amalie Dietrich ihrer Tochter. Das war die„ Heldin", deren Namen in der Gelehrtenwelt unter den Ersten genannt wurde, die berühmte Reisende und Naturforscherin. Das hatte das einsame, entbehrungsund arbeitsvolle Leben in den Tropen aus der frischen, fräftigen Frau gemacht. Als die erste Entfremdung überwunden war und Amalie be= gann, Pläne für das gemeinschaftliche Leben mit ihrer Tochter zu entwerfen, da kam der zweite Schmerz. Charitas hatte in der langen
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Trennungszeit ihr eigenes Leben gelebt und sich nun auch ihre eigene Zukunft gebaut. Sie hatte sich mit einem Geistlichen verlobt, dessen Pfarre an der dänischen Grenze lag. Wohl bot sie der Mutter an, zu ihr zu ziehen. Aber Amalie Dietrich lehnte das Anerbieten ab, so schwer dieser neue Schlag sie traf. Sie wollte sich nicht als überflüssige Dritte in den jungen Haushalt drängen; zudem meinte sie, daß sie mit ihren einfachen Gewohnheiten nicht in ein Pfarrhaus paßte. Vom Schiff aus hatte ihr erster Besuch natürlich Godeffroy gegolten Charitas, die sich die Gewohnheiten der Patrizier Ham burgs angeeignet hatte, schlug der Mutter vor, sich erst umzufleiden. Allein diese wollte nichts davon wissen; auch ihre durchlöcherten Schuhe behielt sie an. Ihren armen Füßen war so viel im Leben zugemutet worden. Da hatte sie Löcher in die Schuhe geschnitten, wo diese die Knöchel gerieben hätten, um Platz und Luft zu schaffen. Ihre Begleitung bestand in zwei gezähmten Adlern, die sie als Geschenk für Dr. Meher mitgebracht hatte. Vor neun Jahren hatte Charitas ihr geschrieben, daß Dr. Meher sich Adler für den Zoologischen Garten Hamburgs wünschte. Das hatte Amalie nicht vergessen und brachte nun die Vögel mit als Zeichen ihrer tiefen Dankbarkeit für den Mann, der sich in der schwersten Zeit ihres Lebens so treulich um sie und ihr Kind angenommen hatte.
Godeffroy und seine Familie nahmen die Naturforscherin mit großen Ehren auf. Sie lebte dreizehn Jahre im Godeffrohschen Hause und war eine fleißige Mitarbeiterin des Museums, dessen größte Schäße ja ihrem Forschungsfleiß zu verdanken waren. Als die Sammlungen in den Besitz der Stadt Hamburg übergingen, wurde Amalie Dietrich am Botanischen Museum angestellt und von der Stadt besoldet. Einmal noch besuchte sie ihre Heimat Sieben lehn und schenkte der dortigen Schule einige ihrer kostbaren Sammlungen. Einst war sie dort verhöhnt worden. Lang und schwer war der Weg gewesen, der sie weitab von der Heimat geführt hatte. Nun wurde sie gefeiert und bewundert, nicht nur in Siebenlehn , sondern auch in den reichen Hamburger Familien. Aber es entsprach so gar nicht Amalie Dietrichs bescheidener Natur, eine Rolle zu spielen. Sie verkehrte am liebsten in den Hofwohnungen Hamburgs und war ein gern gesehener Gast bei den armen Leuten. Sie stand ihnen mit Rat und Tat bei, und ihre selbstbereiteten Heilmittel taten gute Dienste bei den Kranken der Armenviertel. Immer noch war es ihr großer Kummer, daß sie in ihrer Jugend so wenig hatte lernen können. So sah man die einfach gekleidete, alte, verwitterte Frau in allen Vorträgen als eifrige Hörerin.
Als Godeffroy gestorben war, verließ Amalie Dietrich sein Heim und zog in ein bescheidenes städtisches Stift, wo sie sich eigentlich wohler fühlte als in dem Patrizierhaushalt. Schäße hatte sie sich nicht gesammelt mit ihrem großen Lebenswerk. Ihr selbst ist wohl nie der Gedanke gekommen, daß der Fürst der Südsee", der ihrer Arbeit einen Teil seines Ruhmes verdankte, ihre treuen Dienste nicht eben fürstlich gelohnt hatte. Das kleine Vermögen, das sie sich zusammengespart hatte, verborgte sie in ihrer gutmütigen Weise und verlor den größten Teil davon. Aber sie trauerte dem Gelde nicht nach. Sie sagte ruhig:" Ich habe mir ja nicht einmal das Leben genommen, als ich mein Glück verlor!" Die einstige Weltreisende verließ Hamburg nur noch einmal bei Gelegenheit eines Anthropologenfongresses in Berlin . In ihrer gewohnten einfachen Kleidung, ihre alte australische Ledertasche in der Hand, begehrte fie Einlaß in den Versammlungssaal. Die Diener wollten sie nicht zulassen, weil Frauen keinen Zutritt hatten und wohl auch, weil Amalie Dietrichs eigentümliche Erscheinung ihnen Mißtrauen einflößte. Während sie noch mit dieser verhandelten, erschien der Vorsitzende des Kongresses, Geheimrat Neumeyer. Als er den Namen Amalie Dietrich hörte, bot er der alten Frau seinen Arm und sagte zu der Versammlung:„ Frau Dietrich erbittet sich einen Blazz in einem Winkel. Ihr gebührt aber ein Ehrenplay in dieser Versammlung." Die Gelehrten erhoben sich von ihren Sitzen. Der Gefeierten aber rannen bei dieser so wohlverdienten Ehrung große Tränen über die gefurchten Wangen.
Ihr größtes Glück waren ihre Besuche im Pfarrhaus bei ihren Kindern und Enkelkindern. Mit diesen wanderte sie gern hinaus in Wald und Feld, machte sie aufmerksam auf die Wunder der Natur und zeigte ihnen die Zusammenstellung von Herbarien. Lieber aber noch lauschten die Kinder ihren Erzählungen von all den seltsamen Erlebnissen und Abenteuern im Urwald, und sie staunten die Großmutter an, die Dinge erlebt hatte, wie man sie sonst nur in Büchern zu lesen pflegt. Einfach wie Amalie Dietrichs Leben war ihr Sterben. ,, Mit mir sind im Leben nie Umstände gemacht worden. Nimm ja feins von den neuen Laken, und den Sarg, so billig es angeht. Pflanzt einen Efeu auf mein Grab, damit gut!" Das war der letzte Wunsch dieser Proletarierin, die trotz allem Ruhm auch im Tode nichts sein wollte als eine Frau aus dem Volke.