Für unsere Mütter und Hausfrauen

Nr. 18

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Beilage zur Gleichheit

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Inhaltsverzeichnis: See und Wasserfall. Von Nikolaus Lenau . Nerven und Seele. Von Dr. Alexander Lipschüz. Der Seelen­glaube. Von B. Sommer.( Schluß.)- Feuilleton: Der Sieger.

See und Wafferfall.

Die Felsen, schroff und wild, Der See, die Waldumnachtung Sind dir ein stilles Bild Tiefsinniger Betrachtung.

Und dort, mit Donnerhall Hineilend zwischen Steinen, Läßt dir der Wasserfall Die kühne Tat erscheinen.

Du sollst, gleich jenem Teich, Betrachtend dich verschließen; Dann kühn, dem Bache gleich, Zur Tat hinunterschießen.

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Nerven und Seele.

Von Dr. Alexander Lipschüß.

nikolaus lenau.

Wir brauchen wohl hundertmal im Tage das Wort Seele. Wir sprechen vom Seelenleben, von seelischen Erregungen, von der Volksseele, von seelenguten Menschen und so fort. Die christlich­firchliche Erziehung hat uns daran gewöhnt, die Seele als etwas vom Leibe Gesondertes, für sich Lebendes zu betrachten, das nur auf Zeit in dem Körper eingeschlossen ist und im Tode sich von ihm trennt. Der wissenschaftliche Fortschritt hat dieser Vorstellung den Todesstoß versetzt. Er hat den Beweis erbracht, daß alles, was wir mit Seele oder Seelenleben bezeichnen, nichts anderes ist, als die Tätigkeit unserer Nervenzellen, vor allem des Gehirns. Wenn wir heute von Seele sprechen, so soll das gebräuchliche Wort nur ein Sammelbegriff sein für die zahllosen Regungen und Lebensäußerungen unseres Gehirns, die uns im einzelnen als Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Gedanken, Erinne rungen, Willensregungen zum Bewußtsein fommen.

Aber was ist Gehirn? Woraus ist das Gehirn aufgebaut? Diese Fragen zu beantworten, ist heute ein leichtes. Wir nehmen ein Stückchen Gehirn von der Leiche eines Menschen oder Tieres und bringen es unter das Mikroskop. Wir erkennen, daß das Ge­hirn wie alle übrigen Organe unseres Körpers aus Zellen be­steht. Diese Zellen nennt man Nervenzellen. Sie haben ein stern­förmiges Aussehen, und jede Backe dieser Sterne besitzt einen Nervenfortsat". Der Nervenfortsat verzweigt sich immer mehr und mehr, und schließlich ist die Nervenzelle von zahlreichen Ver­zweigungen, einem ganzen Bäumchen, umgeben. Diese Nerven­fortsätze mit ihren feinen Endverästelungen dienen der Verbin­dung zwischen den einzelnen Nervenzellen innerhalb des Gehirns. Eine Nervenfaser der Nervenzelle ist durch besondere Dicke und Länge ausgezeichnet. Aus den dicken Nervenfasern sehen sich die Nerven zusammen, die aus dem Gehirn nach außen führen und so die Verbindung mit den übrigen Organen des Körpers und der Außenwelt herstellen. Jeder einzelne Nerv besteht aus einem gan= zen Bündel Nervenfasern, die zahlreichen Nervenzellen des Ge­hirns angehören. Das Gehirn liegt in der knöchernen Schädel­fapfel. Diese hat auf ihrem Boden ein Loch, durch das die Fort­sezung des Gehirns zum Rückenmark hinunterführt.

Wie das Gehirn, so besteht auch das Rückenmark aus Nerven­zellen, die sich ebenfalls nach allen Seiten verästeln und der Ver­bindung der einzelnen Nervenzellen miteinander dienen. Auch hier hat jede Nervenzelle einen dickeren und längeren Fortsaß, der mit anderen dicken Nervenfortsäßen zusammen einen Nerv bilden und aus dem Rückenmark nach außen treten kann. Gehirn und Rücken­ mark bilden zusammen das zentrale Nervensystem.

Die Nerven, die aus Gehirn und Rückenmark nach außen treten, sind zweierlei Art. Man unterscheidet Empfindungsnerven und Bewegungsnerven. Die Empfindungsnerven verbin­den das Gehirn und das Rückenmark mit unseren Sinnesorganen, mit denen wir die Außenwelt empfinden. Sinnesorgane sind Auge, Ohr, die Schleimhaut unserer Nase und die Schleimhaut unserer Zunge und die übrige Haut des Körpers, mit der wir die Dinge der Außenwelt tasten. Die Bewegungsnerven führen vom Gehirn und dem Rückenmark nach den Muskeln unseres Körpers und veranlassen diese, sich zu bewegen, Arbeit zu leisten.

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Wie nehmen wir die Dinge der Außenwelt wahr? Worin be­steht der Vorgang, den wir empfinden und erkennen heißen? Ein einfaches Beispiel soll uns das klarmachen. Vor uns liegt ein unbekanntes Etwas. Wir sehen, es ist klein und rot. Wir betasten es, es ist weich und glatt. Wir schmecken es, es ist füß. Und nun hören wir, daß die Menschen dieses Etwas Kirsche" nennen. Aus diesen verschiedenen Empfindungen entsteht für uns der Begriff Kirsche. Wie ist das zugegangen? Die Kirsche hat zuerst unser Sehorgan, das Auge in Erregung verseßt, ge­reizt. Der Empfindungsnerv hat diese Erregung zum Gehirn fortgeleitet. Dasselbe geschah mit den Erregungen, die in unseren Geschmacks, Tast- und Gehörorganen hervorgerufen wurden. Die Empfindungsnerven haben alle Eindrücke an das Gehirn weiter­gegeben. Jedes Sinnesorgan hat ein ganz spezielles, ihm zuge­teiltes Gebiet im Gehirn, mit dem es durch den Empfindungsnerb in Verbindung steht. Es sind also die Nervenzellen dieser verschie= denen Gehirngebiete in Erregung geraten. Eine solche Erregung nennen wir Empfindung. Da aber alle Nervenzellen im Ge­hirn durch ihre feinverästelten Nervenfortsäße miteinander in Verbindung stehen, vermögen sich auch die verschiedenen Empfin­dungen einander mitzuteilen. Es entsteht ein einheitliches Bild in unserem Bewußtsein, eben jenes Bild der Kirsche, die wir gesehen, betastet, geschmeckt und deren Namen wir gehört haben.

Jede Reizung der Nervenzellen, also jede Empfindung, hinter­läßt Spuren in den betreffenden Nervenzellen. Die Gesamtheit dieser Spuren bildet das Erinnerungsbild, das wir fortan mit uns herumtragen. Es genügt von jest ab, die Kirsche nur zu sehen oder nur von ihr zu hören, um sofort alle Gehirngebiete in Erregung zu versehen, die bei der ersten Wahrnehmung der Kirsche gereizt wurden. Aber woher wissen wir denn, daß unsere Emp­findungen nichts anderes sind, als die Erregung bestimmter Ge­biete, bestimmter Zellgruppen unseres Gehirns? Und worin be­stehen die Spuren, die die Empfindungen zurücklassen? Vergegen­wärtigen wir uns kurz die Beobachtungen und Versuche, die all­mählich zu dieser Auffassung geführt haben: Aus einer Reihe von Beobachtungen wissen wir, daß man durch verschiedene Mittel, durch Gifte", das Bewußtsein des Menschen ausschalten kann. Jeder kennt die sogenannte Narkose. Man atmet Äther oder Chloroform ein und wird dadurch bewußtlos. Dasselbe geschieht, wenn man Leuchtgas oder Kohlensäure einatmet. Was ist hierbei vorgegangen? Das durch die Atmung in die Lunge aufgenommene Gift ist in das Blut übergetreten und mit dem Blut in das Ge­hirn gelangt. Die Vergiftung, besser Lähmung unserer Nerven­zellen im Gehirn ist also schuld an unserer Bewußtlosigkeit. Eben­so schwindet das Bewußtsein, wenn man einem Menschen die Blutgefäße zusammendrückt, die zum Gehirn führen. Das Gehirn ist blutleer geworden, die Nervenzellen können nicht mehr arbeiten. Diese Erfahrungen lehren uns, daß alle Bewußtseinsvorgänge an einen tätigen Zustand der Nervenzellen geknüpft sind. Alles, was diese Nervenzellen an der Tätigkeit hindert, lähmt, führt zum Schwinden des Bewußtseins, zum Aufhören der Dent= tätigkeit. Also ist alles Denken Tätigkeit der Nervenzellen. Was wir Bewußtsein nennen, ist nichts anderes, als die Summe der Erregungen, die in den Nervenzellen des Gehirns von den Dingen der Außenwelt gesetzt worden sind und fortwährend gesetzt werden.

Weiter: bestimmte Sinnesorgane stehen mit ganz bestimmten Zellgruppen des Gehirns in Verbindung. Das folgt aus unzähligen Versuchen am lebenden Tier und aus einer wichtigen Tatsache: Wenn der Einfluß bestimmter Krankheiten bestimmte Teile des Gehirns zerstört, so werden ganz bestimmte Empfindungen aus­geschaltet, das heißt sie hören auf.

Die Vorstellung, das Gedankenbild eines Gegenstandes erscheint unserem Bewußtsein als etwas Einheitliches. In Wirklichkeit ist es aus vielen Einzelempfindungen zusammengefeßt, gewissermaßen ein Mosaikbild. Und wie man das einheitliche Mosaikbild in die einzelnen Steine zerlegen kann, so kann man auch das anschei­nend einheitliche Gedankenbild in die einzelnen Empfindungen zerlegen. Das sieht man besonders deutlich an jenen Fällen, wo die Tätigkeit des einen oder des anderen Sinnesorgans ganz aus­geschaltet ist, zum Beispiel bei blindgeborenen Personen. Für eine blindgeborene Person ist das Gedankenbild der Kirsche tatsächlich anders gestaltet als für einen normalsichtig geborenen Menschen.