Nr. 20

Für unsere Mütter und Hausfrauen

Und der frühere Textilarbeiter, der Elsässer Wöhrle, rief trogig in den kommenden Tag" hinein:

Ob wir auch tief im Elend gehen, Wir sind's doch, die das Feld besä'n, Wir sind's doch, deren Muskelkraft Die goldne Last zu Garben rafft

Und übervolle Scheuern schafft.

Wir, die Habenichtse der Gegenwart, sind die Baumeister der Zukunft, so jubelt und troßt es wieder und wieder aus den Liedern dieser Proletarier.

Ich bin ein Prolet und du ein Prolet,

Wir bauen die Zukunft, wir haben sonst nichts.

Dem invaliden Gärtner Zerfaß erwächst die Pflicht zum sozia­listischen Kämpfertum aus seiner Besitzlosigkeit. Das ist nur mög­lich, weil ihm das Proletarierlos nicht blinder Zufall, nicht indi­viduelles Unglück mehr ist, sondern Klassenschicksal, ein Glied in der notwendigen Kette geschichtlicher Entwicklung. Sein Jch geht auf in dem millionenfachen Du der Arbeits- und Schicksalsbrüder um ihn her; aus ich und du entsteht das neue, siegesmächtige Wir. Die Kraft der vielen" nennt Pehold dieses Erlebnis in seinem prächtigen Festgedicht Am ersten Mai".

Die Straße spricht: Was ist das Schreiten Auf meinen Brüsten siegesfroh dahin, Flammrote Banner und Standarten breiten Sich über mich; was für ein starker Sinn Muß diese tausende Proleten leiten, Daß sie in ihres Zuges Anbeginn So fühlen wie die Brüder an den Seiten Und mächtig sind bis an das Ende hin?

Was bedarf es weiter Zeugnisse, daß hier eine neue Kunst int Werden war, daß ein neuer Geist sich hier verklärte Formen schuf? Und das ist unser gutes Recht,

Wir stürzen das Alte, das morsch und schlecht, Und lachen ob eurer Gesetze.

Das war echt proletarische Jungboltsrespektlosigkeit. Sie ist nicht geboren aus Zuchtlosigkeit, aus der vielberufenen Verrohung, sie ist der kecke Fehdehandschuh einer Klasse, die gelernt hat, daß alles geschriebene Recht nur eine Widerspiegelung und Formulierung ist bestehender Machtverhältnisse. Otto Krille schrieb diese Zeilen, als er mitten im Kampf um die Gründung und Behauptung der freien Jugendorganisation stand.

Es gab sich ganz von selber, daß die freie Jugendbewegung zum Tummelplatz der aufstrebenden proletarischen Talente wurde. Hier famen die jungen Arbeiter mit Gleichstrebenden zusammen; hier lernten sie Klassenbewußtsein und Solidarität kennen; hier nah­men sie die Ideale und elementaren Grundsätze des Sozialismus in ihre heißhungrigen Herzen auf; hier fand auch ihre Kunst die erste Anregung, den ersten begeisternden Inhalt, die erste Aner­fennung. Petzold fand den Sozialismus und die Kunst in der pro­letarischen Jugendbewegung Wiens, Mag Barthel und andere lebten und webten in der freien Bildungs- und Jugendbewegung Deutschlands  . Hier sammelten sie auch den Schatz an Bildung, Wissen, Sprachmeisterschaft, der sie in Form und Ausdruck weit über die tastenden Gehversuche proletarischer Dichter aus nicht­sozialistischen Kreisen emporhebt. Nur die katholische Arbeiter­bewegung hat noch ein Talent von ähnlicher Stärke und ausge­sprochen proletarischem, wenn auch nicht sozialistischem Empfinden hervorgebracht, den rheinischen Kesselschmied Heinrich Lersch  . Die soziale Lyrik des Bürgertums hat sich fast die Zähne aus­gebissen an dem Problem der modernen Großstadt, die so be= rückend schön ist und zugleich so voll Ekel, Gemeinheit und unsag­barem Glend. Sie hat die beiden Gegensätze nebeneinander gestellt, sie hat sie nie in einer dritten höheren Bewertung geeint. Erst der sozialistische Proletarier vermag das. Man nehme Karl Brögers fleines Versbuch" Die singende Stadt" zur Hand. Gleich auf der crsten Seite der eigenartig schöne, tiefsinnige Hymnus an die Großstadt.

Du läßt uns nicht, du zehrst an unsrem Mark, Und doch machst du uns wieder frei und stark, Denn wie du einen auf den andern weist, Erweckst du allen den verwandten Geist. So lenkst du unsern Sinn zu höherer Kraft Und bist die Wiege unsrer Brüderschaft.

Was ist nun aus diesen sozialistischen   Arbeiterdichtern gewor­den? Wie hat der Weltkrieg auf sie gewirkt?( Schluß folgt.)

Freunde beim Feind.

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Man schreibt uns aus New York  : Wenn man manche europäische Zeitungen liest, so scheint es einem, daß in den friegführenden Ländern in den Herzen aller Menschen das Mitgefühl für die Angehörigen feindlicher" Nationen gänzlich erstorben ist. Daß dem aber durchaus nicht so ist, beweisen zahllose Taten der Mensch­lichkeit, von denen die Öffentlichkeit leider zu wenig erfährt, und die im Interesse der Wiederaussöhnung der Völker nicht unbe­achtet bleiben dürfen. Wieviel hat man in allen Ländern nicht über die Grausamkeit geschrieben, mit der Ausländer in den ver­schiedenen Staaten bei Ausbruch des Krieges behandelt worden sein sollen! Aber wie wenig hat man von den zahlreichen Beweisen echter Menschenliebe vernommen, die der Feind" dem Feinde" in der Not gab!

Da sind zum Beispiel die Quäker in London  , die seit dem Anfang des Krieges den bedrängten feindlichen Ausländern als wahre Schutzengel zur Seite gestanden sind, ohne davon viel Auf­hebens zu machen. Die Quäker sind in England ein fortschritt­liches Element. Sie zählen in ihren Reihen viele gebildete Men­schen und reiche Philanthropen, die mit Unterstützungen guter 3wede nicht fargen. Auch viele unserer besten und energischsten Parteigenossen in Großbritannien   gehören dieser Sekte an. Na­mentlich was die Quäker für die Kinder der unglücklichen Aus­länder in London   getan haben, darf ihnen nicht vergessen werden. Im letzten Sommer schickten sie zum Beispiel die Kinder von deutschen, österreichischen und ungarischen Arbeitern, die sich in den Gefangenenlagern befinden oder die noch auf freiem Fuße sind und ein färgliches Leben fristen, auf mehrere Wochen unentgeltlich in die Sommerfrische. Als Weihnachten kam, veranstalteten die Quäfer für dieselben Kinder ein großes Weihnachtsfest. Es muß ein prächtiges Fest gewesen sein, nach dem Brief zu urteilen, den ein zehnjähriges Mädchen, das Kind eines ungarischen Genossen, der sich zurzeit in London   kümmerlich durchschlägt, meinem Töchter­chen geschrieben hat. Der Brief lautet:

Es hat mich sehr gefreut, Deinen Brief zu erhalten, der erst nach neunzehn Tagen heute morgen hier ankam. Ich habe mich zu Weihnachten sehr gefreut, und ich bekam eine liebliche Puppe, ganz gekleidet, eine Farbenschachtel und ein Paar Gummischuhe zum Geschenk. Am Samstag vor zwei Wochen gingen wir zu einer Gesellschaft, die in dem Versammlungssaal der Freunde( Quäker) abgehalten wurde. Es war reizend. Da war ein wunderschöner Weihnachtsbaumt, bedeckt mit Spielzeug und Kerzen. Wir spielten einige schöne Spiele, bis der Tee fertig war, und dann gingen wir hinauf und kamen in einen anderen großen Saal. Es waren un­gefähr hundert Leute da, und wir saßen an fünf langen Tischen. Es war ein prächtiger Tee, und es gab gehörig zu essen und zu trinken, Butterbrot, Gingemachtes, Zwieback, Kuchen und so viele Tassen Tee, als man haben wollte. Nach dem Tee gingen wir hin­unter in den anderen Saal und setzten uns um den Weihnachts­baum. Alle Lichter waren ausgedreht, nur die Kerzen am Baum brannten, und wir hörten die Geschichte von einem Harfenspieler an, die eine Dame uns erzählte. Und dann erzählte uns ein Mann eine Geschichte und dann kam die Bescherung. Ein Mann, der sich als Weihnachtsmann verkleidet hatte, gab uns die Geschenke, und ich bekam eine Puppe, von der ich schon sprach, und Else( ihre Schwester) bekam auch so eine, nur anders gekleidet. Der Baum mit all dem Eis darauf sah sehr hübsch aus. Da es spät geworden ist und ich nichts Weiteres zu sagen habe, muß ich jetzt schließen. Von Deiner Freundin Winnie.

Dieser schlichte Kinderbrief besagt mehr als alle langen Schilde­rungen. Es muß noch hinzugefügt werden, daß dieselben Leute, die sich der Kinder annahmen, auch manches getan haben, um das Los der Eltern zu erleichtern. Jeder verständige Mensch wird ein­sehen, daß sie mit diesen Handlungen nicht nur der Menschlich­keit, sondern auch ihrem eigenen Lande einen größeren Dienst erweisen als die Apostel des Hasses, die den Feind jeden Tag mit dem Munde totschlagen.

Feuilleton

Lucy Stone  .

( Fortsetzung.)

Eine nordamerikanische Bahnbrecherin der Frauenbewegung. Leo Tolstoi  , der Riese unter den Künstlern unserer Zeit, hat uns den Roman einer Ehe geschenkt, in dem er das Verhältnis zwischen Mann und Weib von dem Frühling der zart aufsprossenden Liebe