Das mittelalterliche Serlin. Von Dr. Hermann Hieber. Berlin gilt als eine durchaus moderne Stadt. Es hat sich so unsinnig schnell entwickelt in den letzten fünfzig, sechzig Iahren, daß sein eigentlicher Kern, der begrenzt wird durch den Molkenmartt, Neuköllnischen Fischmarkt und Neuen Markt, innerhalb der Viermillionenstadt von Groß-Bcrlin fast zu einem Nichts zusammenschrumpft. Besonders der unaufhaltsame«Zug nach dem W e st e n" hat den Schwerpunkt aus dem Zentrum, selbst von der Friedrich- und Leipziger Straße , nach der Tauentzien- ftraße und den, Kurfiirstendamm hin verschoben. Vor zwei Gene- rationen aber, um 1860, spielte die K ö n i g st r a ß e noch die Rolle der Leipziger: am Ende der neunziger Jahre hörte das offizielle Verlin ungefähr an der Kaiser-Wilhelm-Eedächtnis-Kirche auf. Kein Wunder also.dnß der Berliner von dem Kern der heutigen Metropole so wenig m-hr weiß. Und doch verlohnt sich«ine Wan- derung durch diese ältesten Stadteile. Die Anfänge der Stadt- geschichte werden lebendig, manche Züge, die für den Berliner charakteristisch geworden sind, entdeckt der aufmerksame Beobachter als bereits Jahrhunderte alt. Hart daneben allerhand Romantisches, ganz und gar Unberlinisches. Wie merkwürdig nimmt sich nicht an einem ganz unauffälligen Geschäftshaus des Molkc»markts,_ am Zugang zu der versteckten Pfarrkirche von St. Nikolai, die«Große Rippe" aus, über einem Schulterblatt ein dünner, krummer Knochen von riesiger Länge, die die Legende einem Riesen der Vorzeit andichtet, der in den Müggelbergen hauste, und vom Bräutigam des von ihm um- wordenen Fischermädchens erschlagen worden sein soll— ein Kerl, so ungeschlacht, daß sein Leichnam für das Begräbnis zerstückelt werden mußte. Und dann wieder die Eigentümlichkeit, die bis auf den heutigen Tag der Stadt Berlin zu ihrem Fluch geblieben ist: d a-ß s i e nie ganz einheitlich organisiert war. Die Spree spaltete die Städtegründung de» 12. Jahrhundert», das U r b e r l i n, in ein mehr wendisch besiedelte« Fischerdorf Kölln und eine überwiegend deutsche Gewerbe- und Handelsstadt, die schon durch ihre Lage gegen das wenig ausdehnungsfähige, weil stark morastige Kölln bevorzugt war, eben Berlin , vorübergehend kam eine Einigung von beiden zustande, aber die Kurfürsten, die die Stadt wesentlich erweiterten und den Friedrichs werder, die Dorothcen- und F r i e dr i ch st a d t gründeten, im 17. Jahrhundert, zerstörten die Einheit wieder, indem sie durch eigene Rathäuser, Kirchen und Marktplätze jedem dieser Stadtteile Selbständigkeit verliehen. Zwar machten die Bürger reiche Stiftungen für ihre Psarr- kirchen von St. Nikolai und St Marien, denen sich das Graue oder Franziskanerklo st er zugesellte, die schönste gotische Kirche Berlins , und für das Gotteshaus in Kölln, Et. P e t r i, aber die Berliner waren schon damals, im 12. und 1�. Jahr- hundert, keine harmlos-frommen Schäfchen, sondern bisweilen recht spottsüchlige Kritiker und selbst zu Gewalttaten geneigt. Da» Wohn- Haus des Propstes von St. Petri tauften sie das«G al g e n h a u s": vor der Marienkirche steht ein unscheinbares Granitkreuz, das eine bedeutb'me Geschichte erzählt. Im Jahre 1355 für die Er- niordung de, Propstes Nikolaus von Bernau er- richtet, bildet« es den Abschluß einer zweiunddreißig Jahre währen- den Klrchenbuße, die über die Berliner Bürgerschaft vom Papst vcr- hängt wurde. Besagter Kirchenmann hatte sich, wie das noch heute geschehen soll, in die weltlichen Händel eingelasien und die Bürger durch eifriges, wohl nicht ganz uninteressiertes Zureden an den nach den Reichtümern der jungen Handelsstadt lüsternen Herzog Rudolf von Sachsen ausliefern wollen. Ein andere» Denk- mal für das kritische Denken der Burgerschaft am Ausgang de» Mittelalters ist der T o t» n t a n z in der Vorhalle der Marienkirche, zwischen 1�50 und 1470 entstanden, wohl unter dem Eindruck des „Schwarzen Tode s", der Pest von 1450. Ein sozialer Gedanke liegt diesen Totentänzen zugrunde: alle Stände, die vor- nehmsten wie die geringsten, sind dem Tode versallen, Kaiser und Papst werden dem Bettler und Lauern gleich. In Paris , in Basel und Lübeck entstanden, mit Vorliebe auf Friedhofsmauern oder an Kirchen, die in der Regel von Gottesäckern umgeben waren, diese langen, gemalten Lehrgedichte. Das in Berlin wird durch niederdeutsche Verse erläutert, die aber nur noch teilweise leserlich sind. Es ist anzunehmen, daß als Vorbilder wirkliche Tanzvor- führungen gedient haben, die in Kirchen oder auf Kirchhöfen statt- fanden. Bemertenswcrt ist übrigens auch, daß an Beichtstühlen und dem Chorgestühl, also den Sitzen für die höhere Geistlichkeit, im 14. und 15. Jahrhundert massenhaft Spottbilder auf die Un- bildung, Völlerei und Unzucht dc« Kloster, und Weltkleru« er« scheinen, selbst grob unflätig» Darstellungen finden sich darunter, die der Staatsanwalt von heut« gewiß nicht unzestraft durchgehen lassen würde. Ganz nahe bei St. Nikolai ist die K a l a n d s g a s s e. Die Bezeichnung findet sich auch in anderen märkischen Städten, z. B. in Bernau . Auch sie erinnert an eine soziale Einrichtung des � Mittelalters, an die Loicnbruderschasten, die sich zu frommen Wir- ken, als zur Krankenpflege, Bestattung der Toten, Armenfürsorge zusammenschlössen. In Italien und Spanien , wo diese bürgerlichen Organisationen in einer Art von Wettbewerb mit den Mönchsorden, die anfingen, unpopulär zu werden, zuerst auftraten, kann man noch heute ihre Mitglieder, in schwarze oder weiße Ka- puzen verhüllt, beim Abholen Kranker, des Abends im Fackelschein, beobachten, schauerlich wie Gespenster anzusehen— doch war diese Vcrmummung ursprünglich nur eine Schutzmaßnahme gegen Pest- ansteckung(alles Erinnerungen an den„Schwarzen Tod", die Heim- suchung von ganz Europa im 14. und 15. Jahrhundert). In Nord- dcutschland nannten sich diese Laienbruderschaften, die sich in che- losem Leben mit entschieden kommunistischem Anstrich eng zusammenschlössen, Kalandsbrüder. Ihr Programm war äußerst löblich— schade, daß sie nicht die Energie hatten, es auf die Länge durchzuführen. Aber bald oerfielen sie in wüste Schlem- merei, tobten und soffen die ganzen Nächte hindurch und mochten der Nachbarschaft ihres Ordenshauses viel Verdruß. Im Jahre 1540 mußte die Bruderschaft, weil allzu anstößig, aufgehoben werden. Die Wohlfahrtseinrichtungen suchte man den geistlichen Orden möglichst zu entziehen. So unterhielten die Städte Berlin und Kölln drei Spitäler vor den Toren zur Bcrpslegung bedürftiger Fremdlinge und zur Beobachtung S-uchenvcrdächtiger(also eine Art Quarantäne st ation). Das St. Geargs- Hospital in der Gegend es heutigen Alexanderplatzes, das völlig verschwunden ist, das G e r t r a u d t e n s p i t a l, an das der Name»C p i t te l- markt" erinnert— feine Kapelle wurde vor ein paar Jahr- zehnten, weil völlig baufällig geworden, abgerissen— und das einzige, von dem ein Kirchlein stehen geblieben ist, das Heilig- g e i st spital. Die reizend gegliederte gotische Backsteinkapelle ist, mit wenig Glück allerdings, in den Neubau der Handelshochschule einbezogen worden und steckt als ein Fremdkörper in ihr. Eine bedeutende Rolle scheinen die beiden Mönchsorden der Franziskaner und Dominikaner in Berlin nie gespielt zu haben. Das Dominikanerkloster in Kölln wurde abgerissen, seine Kirche, ein großer, stattlicher Bau mit vier Türmen, in die Schloßkirche der protestantischen Kurfürsten von Brandenburg umgewandelt, im 17. Jahrhundert, als sie zum Ealvinismus übertraten, ihrer reichen Kunstschätze beraubt und grau zugetüncht. Für Erhaltung alter Baudenkmal er hat man in Berlin von jeher wenig Sinn gehabt: der Turm der Marienkirche wurde wegen Baufällig- keit Ende des 18. Jahrhundert» abgetragen, und unter dem nämlichen Monarchen, dem man sonst so viel Kunstsinn nachrühmt, unter Friedrich II. , war die Dominikanerkirche schon 1747 niedergerissen und durch einen recht unbedeutenden Kuppelbau ersetzt worden: die Domkirche, die ihrerseits dem Schandmal von Berlin , dem neuen Dom von Raschdorff , steingewordene wilhelminisch« Großmäuligkeit, hat weichen müsicn. Die Hohenzollern haben sich, was Pietätlosig- keit betrifft, nicht viel vorzuwerfen:: der friderizianische Dom war, an dem Wilhelminischen gemessen. Immer noch eine höchst anständige Bauleistung. Das Antlitz von Berlin , sowohl das politische als das künst- lerische, bekam im späten Mittelalter, im Laufe des 15. Jahr- Hunderls, einen neuen Zug. Die Bürgerherrlichkeit nahm ein Ende, Berlin wurde Residenz. Die alten Markgrafen, die Ballen- stedter, hatten sich mit einem Lbsteigeguartier ni der Klosterstraße, dem«Hohen Hause", begnügt und meist in Tangermünde Hof ge- halten. Diese» Hohe Haus ist ein mächtiger, finsterer Kasten, im 18. Jahrhundert umgebaut, als Rittcrckademie von König Fried- rich I., als Wollmagazin von dem wesentlich praktischer veranlagten Friedrich Wilhelm I. eingerichtet: heute dient es als Archiv und Steueramt und macht einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Der zweite Kurfürst aus dem Hause Hohenzollern , Friedrich II. , genannt der«Eisenzahn ", der Todfeind der bürgerlichen Selbstherrlichkeit, gründete die Zwingburg an der Spree , aus der 250 Jahre später das heutige Schloß erwuchs, der Prachtbau Andreas Schlü- t e r s. Noch gibt der hochragende schwarze Turm an der Wasser- front, der»grüne Hut", Zeugnis von dem Charakter dieses alten «Z w i ng- B e r l i n" Mit souveräner Schamlosigkeit wurden die alten städtischen Privilegien in den Staub getreten, und Joachim II. , der Vater der Reformatton in Brandenburg , trieb es mit Steuererpressungen so weit, daß die Bürger von Berlin beschlossen, Haus und Herd daheimzulosien und geschlossen auszuwandern. Es ist«in hübscher, symbolischer Zug, daß der Rest de» ursprünglichen Berliner Rathause», die offene Gerichts- laude— es durfte nur vor allem Volk Gericht gesprochen werden im mittelalterlichen verlin— au» dem Herzen der Stadt entfernt und— im königlichen Schloßpark Lebelsbcrg als Spiel- zeug wieder aufgestellt wurde..,,
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