Nummer 41
13. Oktober 1921
Heimwelt
Unterhaltungsbeilage des Vorwärts
Man nehme nur an, daß zur Aufklärung der unteren Klaffen ein Viertel der Zeit aufgewendet worden wäre, die man zu ihrer Verdummung gebraucht hat, ( und) man würde über das Ziel erftaunt fein, zu dem ihnen ein gutes Elementarwerk den Weg gewiefen hätte. Nicolas Chamfort ( 1740-94).
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Er fehrte von seinem täglichen Spaziergange heim. Der hatte ihn wie stets ein Stück durch die Felder und zurück durch the schmalen Straßen der alten Kleinstadt geführt. Wenn ihn fönst Berufsfragen gequält hatten unterwegs hatte sie ihm der frische Wind davongemeht; oder sie waren in dem Rot der hinter den Feldern untergehenden Sonne verbrannt. Heute aber schlug er die kleine Gartentür zu, ohne nach dem Fenster hinaufzulächeln, hinter dem seine Frau faß. Langsam ging er, anstatt ins Haus hinein, still herum und in den Garten. Auf die Blätter der Beerenbüsche legte sich schon ein feiner Tau. In dem letzten blassen Licht fonnte der Richter gerade noch deutlich die von wuchernden Nelken eingefaßten Gänge erkennen. Er schriit bis an das Ende des Gartens, wo eine helle Bant aus Birtenästen leuchtete. Doch seine Unruhe zwang ihn, sich nicht dort niederzulassen, sondern weiter
zu wandern.
Es war ihm nicht möglich, jetzt in das Haus zu gehen, sich on den gedeckten Tisch mit der helleuchtenden Lampe zu sehen und still und fröhlich das Abendbrot zu genießen, wie er es ge= wöhnt war.
Seine Unruhe wurde immer größer. Endlich sah er ein, daß er hier im eigenen Garten nicht das Gesuchte finden werde. Diese Bank da hinten! Sie vermehrte feine Unraft.
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Was sagte die Bant nicht alles was rührte die nicht auf. Als er wieder bis zu ihr gekommen, drehte er sich entschlossen heftig um und ging mit großen Schritten aus seinem Garten.
Aber er hatte noch nicht die Tür an der Straße erreicht, da flinkte die Haustür auf und eine Stimme rief ihn an:" Günter! Kommst du denn heute nicht herein?"
Er wagte nicht sich umzudrehen. Und leise und heiser sagte er: Ach, ich habe heute gar keinen rechten Hunger ich möchte noch ein bißchen laufen!"
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bruchs angesetzt. Ein Gutsbesizer, der eine allzu gewissenhafte Hausfrau hatte, war von ihr wegen eines Ereignisses angezeigt worden, das sich zwischen ihm und der Erzieherin der Kinder ab. gespielt. Die Frau des Richters kannte die Erzieherin. Daß dies Mädchen ein Mensch war, der Zuneigung suchte und brauchte, wußte sie. Und sie hatte sich nicht gewundert, daß der Gutsbefizer, der in einer kalten Ehe lebte, und dieses Mädchen sich zusammen. fanden.
Sollte das wirklich den Richter so erschüttern, über Menschen zu urteilen, die ihm nicht fremd waren, deren Schuld ihm ver ständlich erschien?
Das mußte etwas anderes sein Empfinden. ergriffen haben.! Und wie eine Erleuchtung tam es über sie:
standen? Wo er nicht wußte, würde er zu seiner Frau oder zu Hatte der Richter nicht auch einmal an einem Kreuzweg ge. dem andern Weib einbiegen, das da drüben lockte und die Arme ausstrecte? Lebte die nicht auch in ihrem Hause? War die nicht gekommen, ihr die Hausführung zu erleichtern, die der jungen Mutter zu schwer fiel?
Aber sie, die Frau, hatte ja dann doch die größere Kraft befessen. Und der Richter wer nach kurzem Sinnen eingebogen in den Weg, der zu ihr führte. Das andere Weib da drüben aber war verschwunden in dem Dickicht, das hinter ihr gähnte.
Die Frau des Richters fonnte nicht begreifen, warum ihr Mann sich; so hineinverlieren konnte in das Unglück anderer. Sie nahm ein Buch vor und wollte lesen. Doch sie schlug die Seiten um, ohne den Inhalt zu erfassen. Dann stand sie auf, und stellte sich an's Fenster.
Lange mußte sie warten.
Dann endlich öffnete er die Tür und kam die Stufen herauf. Sie freute sich über seinen Gang, der jetzt fest und entschlossen war. Rasch öffnete sie die Stubentür und trat ihm entgegen. Er hing den Hut auf im Flur, stellte den Stock in die Ecke und ging an
ihr vorbei.
In der Nähe des Tisches blieb er stehen, strich mit der Hand über die feuchte Stirn und trat auf seine Frau zu.
Sie war ihm bestürzt gefolgt. Sonst vergaß er nie, sie bei seiner Heimkehr zu umarmen. Und heute ließ er sie stehen, blickte sie nicht an?
Sie folgte ihm zögernd.
Da sah er sie voll an und sagte mit weicher, aber fester Stimme:„ Ich lege mein Amt nieder!"
Sie sah ihn mit großen stummen Augen an.
Er fuhr fort:„ Du weißt, in den nächsten Tagen kommt Guts befizer Rohrbeck auf die Anklagebant.... Ich werde mich frant melden. Und dann meine Entlaffung verlangen." „ Aber
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du hast doch schon oft solche Menschen verurteilt,"
Seine Frau fannte ihn als einen schwerblütigen Menschen, der oft stundenlang im Garten hin- und herwanderte, wenn irgendein Urteil ihn bedrückte, oder wenn ihm ein Prozeß bevorstand, rief sie, während ein falter Schrecken sie durchlief. dessen Motive noch nicht geklärt werden konnten. Das jedoch war ,, Ja ich habe schon oft solche Menschen verurteilt," wieder. noch nie vorgekommen, daß er seinen täglichen Weg vor die Stadt holte er langfam. Und die Augen auf den hellen Tisch gerichtet, an einem Tage zweimal machte. Sie wollte fragen. Aber da sprach er mit schwerer Zunge weiter:" Habe ich sie verurteilen hatte er schon die Tür hinter sich geschlossen und ging hinaus auf die Landstraße.
Sie sah ihm nach. Während er langsam an den dunklen Baumstämmen entlang schritt, nur eine schwarze Silhouette in dem Abenddämmer, überlegte sie, was ihn wohl bewegen könne. In den letzten Tagen waren mehrere Knechte wegen Messerstechereien verurteilt worden. Auch ein junges Mädchen, das eine Scheune ihres ehemaligen Geliebten in Brand gesteckt, hatte eine Strafe bekommen. Das war doch sonst nichts, was den Richter in Unruhe brachte. Die Ursachen waren ja nicht versteckt, und die Schuld war leicht festzustellen.
So fonnte nur in dem, was noch fommen sollte, die Verstimmung des Richters liegen. Die Frau ging hinein in das Haus und griff nach der Zeitung. Da waren für die nächsten Tage Termine wegen Meineids und dann noch einer wegen eines Ehe-|
dürfen? Waren sie schuldiger als ich? Wer weiß, ob nicht meine Schuld größer war?. Habe ich nicht auch ein Menschenleben auf dem Gewissen? Was ist denn aus Marianne geworden?" Da packte ihn seine Frau am Arm, umflammerte ihn mit beiden Händen und flehte mit wimmernder Stimme, das Gesicht entsetzlich verzerrt: Marianne Marianne?"
,, Ja," sagte er und sant auf einen Stuhl.„ Ja“. Sie stützte sich auf die Tischkante und wimmerte wortlos vor sich hin, ohne Tränen, bemüht den Mund zu schließen, den sie nicht schließen konnte.
Ich kann ihn nicht verurteilen, ich hätte niemals einen Menschen verurteilen dürfen!" sagte er. Und dann suchte er nach ihrer Hand, mit abgewandtem Kopf.
Sie ließ sie ihm...
Und an ihrer Hand kam er zur Ruhe.
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