Nuöolf virchow.1821— 13. Ottober— 1921.Das Jahr 1821 hat Deutschland zwei seiner größten und um-sassendsten Forscher geschenkt. Hermann Helmholtz und RudolfVirwow bilden mit Alexander von Humboldt, dem universalstenaller Naturforscher, ein leuchtendes Dreigestirn von unerhörter Viel-seitigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis.Auch Helmholtz war Arzt, war, wie Virchow, Zögling derPepiniöre, der militärärztlichen Bildungsanstalt in Berlin. Aberfür den großen Physiker und Physiologen war die Medizin gewisser-maßen nur die Unterstufe seiner Forschertätigkeit, war ihm Mittelzum Zweck gewesen. Rudolf Virchow dagegen blieb, bei all seinerschier unübersichllichen Vielseitigkeit, Arzt, wenn auch nicht im land-läufigen Sinne. Er war nur in begrenztem Umfang Praktiker.Virchow hat, zwar gemeinsam mit anderen und befruchtet von an-deren, namentlich von seinem großen Lehrer Johannes Müller, aberdoch als ihrer aller Führer der Medizin ganz neue Wege der Er-kenntnis gewiesen; er hat die exakte naturwissenschaftliche Grundlagezur modernen Medizin überhaupt erst gelegt. Von seinem Auftretenan war es mit der bis dahin gültigen Naturphilosophie aus, unddie kritische positivistische Richtung in der Medizin wurde von ihmunerschütterlich und unumstößlich verankert. Erst seine induktiveMethode legte das Fundament, auf dem sich die Pathologie(Krank-heitslehre) aufbaute; er war der erste, der den experimentellen Nach-weis lieferte, daß die Krankheit nichts anderes ist als eine Störungim normalen Verlauf der Lebensvorgänge, und daß sie von derTätigkeit der elementarsten Körperteile, der Zellen, ihren Aus-gang nimmt. So kam er zur Schaffung einer Zellularphystologie,und indem er nachwies, daß alle krankhaften Veränderungen aufStörungen im Ausbau und in der Funktion der Zellen zurückgehen,schuf er die Z e l l u l a r p a t h o l o g i e, die seine genialste erkennt-nistheoretische Tat und der Höhepunkt seiner wissenschaftlichen For-scherarbeit war. Ohne die Aellularpathologie ist die gesamte Medizinseit Virchow undenkbar, und wenn zeitweilig die Bakteriologie eineRevolution der herrschenden Anschauungen anzubahnen schien, sogelang es Virchow doch, mit unerschütterlicher Klarheit den Nachweiszu führen, daß die bakteriologischen Krankheitserreger immer nurden Anstoß zur krankhasten Entartung der Zellen geben.Virchow war bei seinen Forschungen von den.Entzündungenausgegangen: er hatte bereits die Lehre von der Thrombose und derEmboli? und die Lehre von der Leukaemie begründet, von der krank-haften Veränderung des Blutes. Später, nach der Schaffung derAellularpathologie, erforschte er die Geschwülste, indem er ebenfallshier mit der früheren Anschauung brach, als ob es sich bei diesenNeubildungen um unerklärliche, wunderbare Erscheinungen handle.Er wies nach, daß auch die Geschwülste nichts anderes als krankhafteEntartungen der Zellenbildung seien, eine Anschauung, die längstwissenschaftliches Gemeingut geworden ist. Neben diesen bedeut-samen Quadern seines Lehrgebäudes dürfen seine ungemein viel-seitigen anderen Arbeiten auf den verschiedensten Gebieten der Me-bizin nicht gering geachtet werden. Ihre Aufzählung ist in diesemRahmen völlig unmöglich.Rudolf Virchow war aber nicht nur ein genialer Forscher, erwar auch der glänzendste Organisator auf wissenschaftlichemGebiet. Die moderne Sozialhygiene ist durchaus sein Werk;schon im Jahre 1848 hat er darauf hingewiesen, daß ein innerer Zu-sammenhang zwischen den Seuchen und den sozialen Mißständenbestehe, und daß die Aufgabe der Bekämpfung der Volkskrankheitennur durch Zusammenarbeit von Arzt und Staatsmann gelöst werdenkönne. Kurz zuvor hatte er im Auftrag der preußischen Regierungdie Ursachen der in Oberschlcsien ausgekrochenen Typhusepidemieerforscht, und diese Studien haben auf seine Stellung im öffentlichenLeben entscheidenden Einfluß ausgeübt, den Gelehrten zur Beschäf-tigung mit der praktischen Politik veranlaßt. Alle seine organisa-torischen Arbeiten auf dem Gebiet der Sozialhygiene gingen vondiesem ersten Anstoß aus. So wurde er der Schöpfer der medizi-Nischen Statistik, der Schulhygiene, der Reorganisator des Kranken-Hauswesens, der Medizinalgesetzgebung und der kommunalen Hygiene.Was Virchow auf diesem Gebiet in Berlin, seiner zweiten Heimat,geleistet hat, ist von grundlegender Bedeutung für die Hygiene derReichshauptstadt geworden. In zähem Kampf gegen zahlreiche Wider-stände schuf er als Berliner Stadtverordneter— er war überzeu-gungstreucr Fortschritller, der auch gegen Bismarcks Gewalt- undMilitärpolitik steifnackig kämpfte—' die Kanalisation, die Berlin voneiner höchst ungesunden Großstadt zur hygienischsten und sauberstenStadt der Welt gemacht hat. Er stellte den pathologisch-anatomischenUnterricht auf ganz neue Grmidlagen, schuf das Berliner Patholo-gifche Museum, gründete eine�lieihe bis' zum heutigen Tage bedeu-tender wissenschaftlicher Zeitschriften, in erster Linie dos„Archiv fürpathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin",die„Zeitschrift für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte", wieauch die gleichnamige Gesellschaft Virchow als ihren Begründer be-trachten kann. Er stand an leitender Stelle zahlreicher Wissenschaft-licher Korporationen, unter denen die Gesellschaft deutscher Aerzte undNaturforscher besonders genannt werden mag. Er war überhaupt dergeborene Leiter wissenschaftlicher Verein« und Kongresse im In- undAusland, und es ist bewunderungswürdig, wie er neben seiner um»fangreichen wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit zu allen diesenAufgaben noch Zeit fand.Aber damit war Birchows Lebensarbeit noch keineswegs er«schöpft. Schon in ftüher Jugend hatte er sich in seiner hinter»pommerschen Heimat mit dem Studium der deutschen und slawischenVorgeschichte auf Grund prähistorischer Funde beschäftigt, und�dievorgeschichtliche Forschung, der er zeit seines Lebens treu blieb, darfihn als den Begründer betrachten, der sich im Laufe.feines langenLebens immer wieder zu diesem Forschungsgebiet hingezogen fühlte»im Orient selbst Ausgrabungen vornahm und seinem Freunde Schlie-mann bei dessen Ausgrabungen in Troja bedeutsame Fingerzeigegab. So kam er auch zur Anthropologie und Ethnologie, Gebieten,auf denen er lange Zeit Führer und Bahnbrecher war.Rudolf Birchows wissenschaftliche Bedeutung war weltumfassend.Schon im Jahre 1871 durfte er es wagen, in der Pariser Sorbonnezu sprechen, und sein Erscheinen erweckte im Kreise der französischenGelehrten höchste Achtung und Bewegung. Er war der stets gefeiertePräsident der bedeutsamsten internationalen Gelehrtenkongresse, undan der Feier seines achtzigsten Geburtstages im Jahre 1901 nahmdie gesamte geblldet« Welt teil. Wenig« Monat« später traf ihn dasMißgeschick, beim Aussteigen aus der Straßenbahn zu stürzen, wo-bei er sich einen Schenkelhalsbruch zuzog. Von diesem Unfall, sollteer sich nicht mehr erholen. Fast drei Vierteljahre kämpft« sein anrastlos« Tätigkeit gewöhnter Organismus gegen die verhängnisvollenFolgen der Untätigkeit, zu der er verurteilt war. Am S. Septem-ber 1902 starb der Mann, der mehr als irgend ein anderer denEhrentitel eines Wohltäters der Menschheit verdient. A. K.Eine kurze, sachdienliche, volkstümliche Darstellung von Birchows Leben undSchaffen gibt Prof. C. Posner im Rikola-Verlag(Wien, Berlin).hohe Politik in Unterhosen.Von Hans Klabautermann.Man tut gut, den Hut zu ziehen, wenn man einen Diplomatentrifft. Ihre Gepflogenheiten sind nach unerforschlichem Ratschlußund auf genialer Basis aufgebaut und erhalten sich daher jahrhun-dertelang. Die Diplomatie dient dem Verkehr zwischen den Staaten.Solange nichts zu tun ist, entfalten die Gesandten eine fieberhafteTätigkeit auf Bällen und Diners, sobald sie aber aus den Zeitungenerfahren, daß Krieg ausgebrochen ist, ziehen sie sich ins Privatlebenzurück. Will man also des Interesses halber feststellen, wie eigent-lich ein Krieg zustande gekommen ist, so ist es zwecklos, sich an dieDiplomaten zu wenden, weib diese nicht dabei waren. Man ftagtdaher den Kaffeehauskellner oder eine Wahrsagerin, die gewöhn-lich in der Vergangenheit ebensogut Bescheid weiß wie in der Zu-kunft. Der Berichterstatter des„Matin" wandte sich, um der Sacheenergisch auf den Leib zu rücken, vor kurzem an den Anthropo-sophen Steiner, der ihm erstaunliche Dinge offenbarte.Nach Steiner fand am 1. August 1914 der GeneralstabschefMoltke beim Kaiser eine Gruppe kluger Männer vor, die ihre Hand-langen dem Ernst der Situation angepaßt hatten. Alle waren sicheinig bis auf wenige nebensächliche Punkte. Der eine wollte sichnur gegen Rußland, der andere auch gegen Frankreich und Englandwenden, Moltke wollte die Mobilmachung, der oberste Kriegsherrnur die drohende Kriegsgefahr ausrufen lassen. Dadurch sollten dieDiplomaten darauf aufmerksam gemacht werden, daß nicht alles inOrdnung ist. Der Reichskanzler, der ebenfalls dabei war, tat auchetwäs. Er schlotterte mit den Knien. Schließlich ließ sich der Kaiservon Moltke breisschlagen und gab ihm die Mobilmachungsorder. Estat ihm gleich darauf wieder leid, aber Moltke war schon davon-gespritzt. Einer rannte also hinterher, der Generalstabschef jedochübergab die mühsam erbeutete Order schnell seinem Adjutanten zurweiteren Erledigung. Kurz und gut, schließlich hatte der Briefträgerdem Kaiser eine Postkarte von einem Verwandten, dem König vonEngland, gebracht, nach der England und Frankreich auch Kriegmitspielen wollten. Wilhelm, der sein Möglichstes getan hatte undzu Bett gegangen war, stand wieder auf und hielt in Unterhoseneine Rede. Diesen letzteren Punkt halten nun rechtsstehende Blätterfür übertrieben. Ich finde, die ganze Geschichte klingt nicht so un-wahrscheinlich. Der Kaiser hat die Welt oft mit ungewöhnlichenEinfällen überrascht. Wenn er z. B. in einem Park die Bäume ab-holzen und an ihre Stelle Denkmäler— engros billiger— pflanzenläßt, warum soll er nicht auch in Unterhosen eine hochpolitische Rede.halten? Es steht nur nicht fest, ob er in Unterhosen zu Bett ge-gangen ist, oder sie sich, der Würde der Situation Rechnung tragend»schnell wieder angezogen hat. Das eine ist aber sicher: armes, deut-sches Volk, das nach dem Willen der Entente diese Monarchie nicht