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Nummer 49

8. Dezember 1921

Heimwelt

Unterhaltungsbeilage des Vorwärts

fällt einer ab von eurer Schar, fo laßt ihn laufen und richtet nicht; doch dem, der zu euch Itoßen will von dort, dem fchauet ins Geficht!

Gottfried Keller  

Jm Vorwinter.

Bon Stijn Streuvels  .

Zuerst waren die Blätter bleich geworden, totenbleich; dann wurden sie gelbbraun, und dann kamen sie ins Schme­ben und ins Fallen, so müde, so schlaff, gleich Schwingen ster­bender Vögel; und sie fielen reihenweise, sachte niedertanzend, in ganzen Schwärmen. Sie wirbelten in der Luft herum, wurden vom Winde fortgetrieben, und endlich lagen fie tot und unbeweglich irgendwo im Schlamm.

Kein Mensch war zu sehen, und die Häuslein, die dicht an der Erde tauerten, blieben geschlossen; nur der Rauch aus den Schornsteinen verriet noch Leben.

Da drüben kommt etwas herangeträndelt... ein gestalt­loses Ding, gleich zwei kleinen schwarzen Strichen, mit noch etwas dabel, und es kommt näher

Die grüne Allee steht nun tahl und hell: zwei Reihen gerader Stämme, die kleiner werden im blauen Dunst unter­tauchen.

Bulegt werden aus diesen kleinen Strichen ein Mann und ein Weib; und aus dem anderen Ding eine Drehorgel auf einem kleinen Rarren, mit einem Hund zwischen den Rädern. Der ganze Zug jah heruntergekommen aus. Das Kerlchen ging gebückt zwischen der Gabel und zog; das Weiblein stemmte ihre mageren Arme gegen den Orgelkasten, und das Gefährt holperte weiter über die Wagenspuren, durch die Allee und in das weite Tor einer gastlichen Hofstätte hinein.

Eine Schar schwarzer Krähen schwebte durch die Luft. Der Wind ächzte in den kahlen Baumkronen; der Nebel stieg, und die Dinge verdünnten sich in einem bläulichen Dunst; sie verschwanden, und es ward langsam dunkelschwarze Nacht.

Mann, Frau und Hund frochen alle drei auf der Tenne ins Heu, und sie duselten ein, wie alle anderen draußen und rings herum. Wie warm sie hier lagen! Und sie träumten von der Kälte, von der Finsternis, von dem schwermütig

stöhnenden Wind!

Am frühen Morgen, schon vor dem hellen Tage, war das Gefährt schon wieder unterwegs, über die brachen Felder und erläuft in einem ungeheuren See von dichtem blauen Dunst. Sie zogen, was sie fonnten; das Männchen zwischen der Gabel, das Weiblein hinter dem Karren, der Hund mit dem Kopf nahe der Erde.

Da brach aus dem Osten eine rote Glut hervor, und es tam ein neuer Tag. Alles war weiß, schneeweiß, als ob dieser blaue Dunst gebleicht, geschmolzen und festgeklebt wäre auf den halbverweltten Herbstfeldern und auf dem dunklen Astwerk der Bäume. Von den Zweigen rannen große Tropfen.

Unter seinem Mühenschirm hervor lauerte der Mann mit feinem einzigen Auge in die Ferne, und er gewahrte Häuser... und eine Kirche. Sie zogen dahin.

Es waren kleine, weißbereifte Hütten; da stand eines und dort stand eines, und dann ganze Reihen, eng zusammenge­drängt eine Straße.

Sie waren im Dorfe.

Einsam, stille, wie in einem Kloster. Hier ein Weiblein, das, tief in ihren Kapuzenmantel gehütt, an den Häusern

*

entlang zur Kirche schlich; dort ein Schmiedhammer, der dröhnte... und ein kleines Glöcklein, das über den Häusern bimmelte.

-

-

Sie machten Halt. Der Hund setzte sich auf sein Hinterteil und schaute. Das Männchen warf sein Schulterband ab, zog die Müße ein wenig tiefer herab und tastete unter die rost farbige Orgeldecke. Es sah einmal nach den Häusern, die vor ihm standen, es kniff seinen eingefallenen Mund zu, wischte sich mit dem Saum seines Aermels über das Gesicht und drehte. Halberstickte Töne drangen unter der Orgeldecke her­vor in die feuchte Straße:- ein schwermütiges einst zum Tanz verlockendes Liedchen vielleicht, das jetzt, verfälscht, verlangsamt und völlig verzerrt, einem undeutlichen Ge­mimmel durcheinander geworfener Klänge ähnelte; die einen fanien zu früh, die anderen zu spät, wie in einem schweren Traum, und dazwischen ein Seufzen und Stöhnen, das ganz aus der Tiefe tam, bei jeder dritten, vierten Umdrehung, und das sogleich wieder erstarb in diesen immer wiederkehrenden Orgeltönen oder mitgerissen und erstickt wurde in einem tollen Rundtanz. Es war wie ein gepeinigtes armes Seelchen, das da klagte in einem Gejohle von rohen und lärmenden Gassen­schreiern.

Der Hund hatte bei Beginn der Melodie ebenfalls zu heulen begonnen.

Das Weiblein hatte ihr Kopftuch zurechtgezupft über ihrem feinen Altweibergesicht, und die eine Hand in der Schürzen­tasche und mit der anderen eine fleine Blechbüchse aus­streckend, ging fie nun von Tür zu Tür: Für den armen blinden Mann.. Gott   wird's Euch lohnen. Und so durch die ganze Straße und weiter nach den Bauernhöfen, von einem zum anderen, den ganzen Tag, bis es wiederum Abend ward und derselbe dichte Nebel kam, um alles in seinen düster­grauen Schleier zu hüllen.

Und wieder humpelten sie durch eine Allee nach einer Hofstätte und ins Heu.

,, Der Hund hat Junge," sagte das Weiblein, und sie schüttelte ihren Mann.

Junge...?"

Und er drehte sich herum, er schob seinen Kopf tiefer ins heu und duselte weiter. Er träumte von Hunden und von Jungen und von Orgeln und von ohrenbetäubendem Gekläff und Geheul.

Der Hund lag in einem schönen runden Nestchen, zu­fammengerollt, winselnd. Und er schaute so zärtlich und treu herzig in des Weibleins Augen; und er ledte in einem fort an seinen Jungen. Sie waren wie drei rostbraune Maul­würfe, jeder mit einem dicken Kopf; sie wälzten ihre fetten fleinen Körper durcheinander und suchten und piepsten.

Als die Bettler ihre Roggenbrotstulle und ihre Schüssel Brei hineingeschlagen hatten, gingen sie weiter, anderswohin. Das Männchen zog, das Weiblein schob, und zwischen den Rädern hingen die Hunde schaufeind in einem Korbe. So gingen fie weiter, von Dorf zu Dorf, durch die weite Welt, bettelnd: zwei alte Leute mit ihrer Orgel und einem Hund mit seinen drei Jungen.

Biel  - später.

Der dicke Nebel hatte sich in hellblizende Tautropfen ver wandelt, und die Sonne glühte hoch am Himmel. Nun lagen­vier Hunde an dem Wägelchen, vier rostbraune Hunde. Und wenn der Schwengel sich drehte und wenn die kleine Orgel spielte, dann reckten alle vier Hunde die Mäuler in die Höhe und heulten entsetzlich.

Drinnen, tief versteckt unter der Orgeldecke, hoďte das Seelchen, das geheimnisvolle, jämmerliche Orgelseelchen, ganz heiser geworden und beinahe nicht mehr hörbar.

( Aus dem Flämischen von Georg Gärtner  .)