Nummer 6 16. 5ebruar 1622 �lnterhaltunHsbeilatze öes Vorwärts -<♦> Der Ihlenpuhl. Von Paul Mochmann. An der Straß« von unserem Dorf nach der Stadt, gleich hinter den ersten Häusern, stehen zwei mächtige Pappeln.„De Haar un sin Knecht" nennen die Bauern sie, und wirklich nehmen sich aus der Ferne die beiden Bäume auf dem hellen Hintergründe des Himmels wie zwei riesige Menschengestalten aus, von denen die eine demütig den Weisungen der anderen, größeren lauscht. Zwischen den Pappeln und dem Dorf liegt ein kleiner kreisrunder Teich, der in meiner Jugend uns gehörte. Die Straße macht einen großen Bogen, um an ihm vorbei- zukommen. Früher, in den Wendenzetten, soll ein Damm von Pserdeschädeln mitten durch das Wasser geführt hoben. Doch obgleich wir Kinder oft genug mit Hacke und Spaten in dem schlammigen Boden wühlten, wir tonnten keine Spur mehr von dem Damm entdecken. Etwas anderes aber fanden wir, mein Bruder Iochem und ich, was uns im Anfang mehr erfreute, als alle Schädel der Welt es getan hätten; denn es brachte nicht bloß Ehre ein, sondern klingenden Gewinn. Wenn wir nur ein Weilchen mit unseren nackten Beinen in dem trüben Wasser gestanden hatten, so kam es von allen Seiten heran- geschossen, schwarz, in Schlangenwindungen, und saugte sich an der hellen Haut fest. Das waren Jhlen oder Blutegel, wie der Apo- theker in der Stadt sie nannte. Ihm verkauften wir die Tiere, drei Stück für einen Groschen, und eine Handvoll Zwtebelbonbons bekamen wir meist auch noch mit auf den Weg. Aber als uns der Bater dann aus der Dorfschule nahm und zum Pastor in den lateinischen Unterricht schichte, schien es zuerst, als mühten wir unserem ehrsamen Gewerbe, deni wir einen erklecklichen Wohlstand verdankten, für immer entsagen. Beim alten „Köster Möller" hatten wir häusliche Schularbeiten nicht gekannt. Und da man uns in der Wirtschaft nicht brauchte, gehörten die Nachmittage nur uns und den Jhlen. Beim Pastor aber mußten wir gerade außerhalb der Unterrichtsstunden das meiste lernen, die fünf Deklinationen, die vier Konjugationen, die scheußlichen unregel- mäßigen Verben und was man sonst noch braucht, um den Cornelius Nepos zu verdeutschen. Bei dem Versuch, dem Jhlenfang und der Wissenschaft gleichzeitig zu dienen, indem wir die Grammatik mit ln das Master nahmen, kam beides zu kurz. Die Hand, die das Buch hielt, erlahmte bald und sank hinab, Schulter und Rücken schmerzten. Da hatte Lachem einen vortrefflichen Einfall: Wir wollten uns ein Floß baue» Im Winkel einer unserer Scheunen lagen noch vom letzten Ernteseste' her zwei leere Fäßchen, die rollten wir eines Abends an den Teich. Ein paar Bretter wurden droufgenagelt, und da» Floß war fertig. Wir schoben es auf da» Master, ließen uns mit den Rücken gegeneinander vorsichtig jeder an einem Ende nieder und ruderten mit den Beinen ein Stückchen in den Teich.. Das Floß trug und ließ sich leicht lenken. Freudig kehrten wir an das Land zurück, und bis in den Traum hinein beschäftigte uns unser Fahrzeug. Kaum hatten wir am anderen Tage unser Mittagesten ver- schlungen, so eilten wir auch schon hinunter zu unserem Floß, und ein paar Minuten später ruderten wir mit longsamen Beinbewe- gunaen wieder teicheinwärts. Vor uns auf den Knien lag die Gram- motik, zwischen uns aber stand, fest verdeckt, die Kanne für die Jhlen. Als wir nach ein paar Stunden an das Ufer zurücklenkten, hatten wir einen Fang getan wie nie zuvor, und unser lateinisches Pensum beherrschten wir doch wenigstens einigermäßen. Von da an wurde uns unser Floß immer. lieber, und wir konnten es nicht genug rühmen.. Bis dann der Tag kam, der uns den Jhlenpuht und alles, was auf und in ihm' schwamm, für immer verleidete..7■■■■■. Einmal im Hochsommer in den großen Ferien kam die Schwester meines Vaters mit ihrem kleinen Mädchen aus Bremen auf Besuch in unser Dorf. Wir Kinder konnten uns zuerst nicht recht zueinander finden. Lisbeth war aus einer Großstastdt, in der es Neger und Chinesen gab. Sie hatte das Meer gesehen und war sogar chon einmal seekrank geworden. Was konnten wir solchen Erlebnisten Gleichwertiges entgegenstellen? Aber schon nach einer Viertelstunde, als wir unser-n Gast durch die Ställe und Scheunen führten, merkten wir, daß Lisbeth, obgleich sie so gebildet sprach, doch keine„Aap" (Affe) war, denn fast ehrwürdig bewunderte sie die lange Reihe der bunten Kühe, und als sie der Großknecht aus den alten halbblinden Schimmel hob, jauchzte sie laut auf vor Entzücken. Da stieß mir Iochem plötzlich hen Ellenbogen in die Seite und fragte das Mädchen ganz unvermittelt:„Kennst du Jhlen?" Lisbeth schüttelte den Kopf:„Oder Blutegel?" setzte ich lauernd hinzu. „Rein, was ist das?" Aber wir antworteten nicht, sondern nicktSn uns nur leuchtenden Auges zu. Dann riefen wir:„Komm mit!" und jagten davon, hinunter zum Teiche. Kaum vermochte uns die Kleine zu folgen. Bald standen wir alle drei keuchend am Ufer vor unserem Floß. „Kann man drauf fahren?" fragte das Mädchen und wippte es mit der Spitze ihres kleinen Fußes auf und nieder. An die Jhlen dachte sie nicht mehr„Gewißl" antworteten wir,„aber sol" und wir setzten uns an unsere Plätze und fuhren davon. „Laßt mich doch auch mall" rief Lisbeth in heller Begeisterung und streifte eilig Schuh und Strumpf vom Fuße. �Loßt mich doch auch mal!" Wir steuerten zu ihr zurück und stiegen an das Land. Iochem fuhr. ehe. er aus dem. Wasser trat, mit der Hand geschwind an seinem Bein herunter. Ich wußte, warum. Dann losten wir Jungen, wer mit dem Mädchen fahren sollte. Iochem zog den längeren Halm und setzte sich mit dem Mädchen vor- sichtig auf das Floß. Ich aber warf mich ans Ufer und. sah zu, wie die beiden auf Kommando vom Ufer abstießen und langsam über die sonnenbeglänzte Fläch« dahinglitten. Bis zur Mitte des Teiches waren sie gekommen, da befahl Iochem:„Beine still!" Ich achtete, die Hand über den Augen, genau auf das Mädchen, und auch«nein Bruder hatte sich behutsam halb zu ihr h?rumgedreht. Wir wußten, jetzt würden die Jhlen kommen, schwarz, naß und kalt. Aber es kam noch etwas anderes, auch schwarz, naß und kalt, und das wußten wir nicht. Mit einemmal sah ich, wie Lisbeth kreideweiß wurde.„Eine Schlange!" kreischte sie auf und zog mit rascher Gewalt ihre Beine aus dem Wasser. Das Floß. zu. leicht für solche Erschütterung, überschlug sich und beide Kinder verschwanden in der aufspritzenden Flut. Ich sprang auf, als hätte der Blitz neben mir in den Boden geschlagen. Mein Aiem stockte, schwer wie Blei hingen mir die Arme vom Leibe. Da tauchte, dicht neben den Fästern, Jochems Kopf auf. „Halt dich am Floß fest!" schrie ich ihm zu und atmete erleichtert auf, als ich sah, wie seine Finger das Holz packten. Doch plötzlich war es mir, als drängte sich alles Blut meines Körpers beim Herzen zusammen.„Lisbeth!" Ich brüllte es über das Master hin, daß mir fast die Stimme brach„Lisbeth!" Ich rannte In den Teich, bis mir das laue Naß an den Mund spülte Umsonst! Da mochte ich Kehrt und jagte feldeinwärts, dahin, wo über einer Mauer von braunem Roggen helle Strohhüte und weiße Kopftücher in der Sonne blinkten. Mitten durch das Kornfeld ging mein Weg. Wie Stricke schlangen sich die. Halme um meine Beine. Ich strauchelte bei jedem Schritt. „Lisbeth!" dachte ich, raffte mich auf und hastete weiter. Fast wäre ich in die Sense des erschrockenen Vorfchnitters hineingelaufen. Ein paar abgerissene Worte, ein Ruf von ihm. dann kamen sie alle, die Knechte mit Stricken und Brettern vom Leiterwagen, die Mägde mit ihren Harken. Einer riß am Rain die lange Wiepenstange aus der Erde, da ihm nichts anderes zu Händen war. Aber als wir am Teiche standen, zeigte es sich, daß alle diese Werkzeuge nicht genügten. Zwar gelang es ohne Mühe, meinen Bruder, der noch immer am Floß hing, an dos Land zu ziehen.
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