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Nummer 21 24. Mal 1923 _.____ Anterhaltungsbsitatze öes Vorwärts Nokturno. Von Josef Maria Frank  . Ts War in der Frühnachi gewesen, die auf den ersten Tag folgte, an dem warm und sonnig der Frühling wie ein Versöhner in die Großstadt kam. Irgendwo unten, zwischen Geschäfts- und Armeleutevierteln, in einer jener Mietskasernenstraßen, auf deren Namen man nicht achtet, weil es ihrer zuviel gibt, in denen die chäuser wie schmutzige morsche Särge in die dumpsc von Gemüse- und Fischkellern, Trödel- kram und gewaschener Kinderwäsche muffig gewordene Luft sich fiochauf stellen und sich gegenseitig die Sonne nehmen, in einer Quer- traße, in der tagsüber blasse, bleichsüchlige und unterernährte Kinder mit billigem, zusammengeflicktem Spielzeug spielen und nachts kein Laut die Stille stört als höchstens die monotonen gleichmäßig ver- hallenden Schritte einer Holizistenpotrouille, ab und zu das lang- gezogene Wimmern eines Kindes aus einer der vielen Stuben oder das Keifen. Poltern und Klirren eines nächtlichen Zankes, ein rülp- sendes Lallen eines Betrunkenen, der aus der Ecktneipe stolpert, oder ein verhaltener Zuruf, ein freches Gelächter einer Dirne, die an der Ecke oben lauert, an der in regelmäßigen Abständen die Hoch- bahn über das unheimlich knirschende Eisengerüst zur Peripherie der Stadt saust, die hier kaum und nur in weiten Abständen von einer dunstigmilchig flackernden Gaslichtkugel erhellt ist. Es war um Mitternacht. Ich mar auf dem Heimwege von einem Vorstadtcheater, einem Zwischending von Kleinkunstbühne, Kabarett und Variete, das die Presse zu einer sogenannten Premiere «»geladen hatte. Der übliche Bildstreifen hatte sich dort abgerollt: ein weiß- bepuderter und blutrotgeschminkter Clown mit Stehaufhaaren, Miniaturhütchen, groteskem Frack hatte seine harmlosen Späße, die er Abend für Abend verabreichen muß, auch wenn sie ihn anekeln, dem wiehernden Publikum geboten.(Ein armer' Kerl, der sicherlich außerbcruflich weniger zu Spähen aufgelegt sein mag, wenn er seine so-oder-sooiel-köpfige Familie und gleichzeitig seine spärlich« Gag« ansieht!) Ein armes bleichsüchtiges Mädel im aufgebesierten Bühnenfähnchen hatte mit krampfhaft verzogenem Lächeln Arme und Beine verdreht und sich als die von der Direktion so bezeich- nete Schlangenmenschproduktion erwiesen: ein Komiker hatte mit Routine und resigniertem Gesichtsausdruck, Tendenzmache�und geist- reichen Witzen aus dem sein Scheinglanzdasein ermöglichenden Publikum Lochwelle auf Welle heroorgelockt: ein paar Akrobaten hatten den Wein- und Bierttinkern und.zahlenden Gästen zur Unterhaltung ans schwankender Leiter ihr bißchen Leben riskiert: einige nackte Mädels, die mit pendelnden Hängebrüsten und ver- traglich verpflichteten Reizpupillen als lebendiges Yohimbin den geilen Männlein und lesbischcn Fräulein den kitschigen Eros vor- getanzt hatten: ein kleines Theaterstück, das aus Zoten bestanden hatte und von fachmännischen Erotikern augenzwinkernd bewiehert und von Laien in jener fatalen Scham, die Bände spricht, beschwie- gen wurde. Es lvar der übliche Bildstreifen, dem nur der Titel fehlte:Rummel!" Ueber dem vollgepfropften Lokal hatte feuchte Schwüle gelegen, wie der Leiberschweiß sie ausstrahlt, niit Wein- und Bierdunst und Zigarren- und Zigarettenrauch vermischt. Das Publikum hatte sich köstlich amüsiert: aus dem Stimmengewirr in den Pausen hatte man grölendes Lachen, lautes Prosten, aufreizendes Kichern und unter- drückte Schreie aufblitzen hören. Täppisch« Männcrarme waren um schmale Mädchentaillen geschlungen: zuckende heiße Hände hatt« nian klopfendes Fleisch betasten gesehen. Man hatte kecke und süß- lichkitschige Schlagertcxte im wiegenden Publikum siimmen gehört, ebenso wie das Rascheln der zerknitterten Scheine und das blecherne gelangweilte Zählen der Ober:Eintausend zweitausend fünftausend zehntausend zwan.zigtausend* Die Scheine flogen gleichgültig auf die Tische, ab und zu eine aufreizende Musik- sanfare, ein knallendes Händeklatschen, das den Rummel durch- peitschte.... Von dort war ich auf dem Heimwege, als ich mich an der Ecke jener Straß« befand, um Mitternacht und im Dunkeln... Unten rast« die Hochbahn über di« Straßenkreuzung: Irgendwo in der Näh« läutete ununterbrochen eine Einbrechcrglock«: aus dem Zentrum her klangen gedämpst Autosiaiml«. Da zerschnitt plötzlich«in gr«ll»s Läuten di» Luft: zwei blut- rote Auge» tauchten an der Ecke auf, noch zwei, noch zwei, und drei saufende rot« Autos flogen unter ununterbroch«n«>n nervösen Läuten in die Querstraße ab: ich eilte neugierig der Jeuerwehr nach. Die Wagen hielten vor einer der Mietskasernen, die, ein grauen- hastcs Bild in der dunklen Straße, von den grellweiß glühenden und karminroten Scheinwerfern eigenartig beleuchtet war. Don dem Wagen zur geöffneten Tür, durch die Feuerwehrleute hin und her eilten, ein neugieriges Spalier schweigender Menschen, Haus- nachbarn, Nachtschwärmer, zufälliger Passanten, einiger Dirnen und Zuhälter: kein Wort wird laut: nur drückendes Schweigen, grauen- voll« Stille, ob und zu ein verhaltendes Flüstern und das rote Licht der sechs Laternen Da öffnet sich die Tür: die Köpfe der Zuschauer beugen sich nach vorne: man tritt sich auf die Füße und drängt sich, will sehen, sehen, sehen I Feuerwehrleute tragen eine Bahre, auf ihr eine Frau, deren Körper starr unter einer Decke liegt, so mager, daß er kaum zu sehen ist, und deren von grauem Haar wirr umklebter Kopf gelbblaß wie das Wachs einer Totenker.ze ist. Die Bahre wird wortlos auf den Wagen gehoben, der sich wendet und davon fährt. Ein zweiter Wogen fährt vor. Wieder öffnet sich die Tür. Diesmal liegt auf der Bahre ein Mann, ausgemergelt und nur Haut und Knochen. Violett starren aus dem elfenbcinblasien von dem roten Licht umspielten Gesicht« zwei Höhlen, wie ausgebrannte, erloschene Augen. Das Auto nimmt ihn auf. wendet und fährt ab, unaufhaltsam läutend, daß es grell und quälend die Nacht durch- schreit. Das letzte Auto fährt davon: der Menschenklumpen löst sich auf, gestttulierend und debattierend. Aus der Kneipe an der Ecke torkeln Betrunkene und grölen:Wir versaufen der Omama ihr Häuschen...": einer von ihnen steht lallend mitten auf der Straße Na, nu is se fort, Jott sei dank, die Feuerwehr! Nu is se fort mit die Idioten! Sich ze vojislenl Als ob't Leben nich scheen vzärl So'n Ouatschl Komm Iustov, Ick weeß'ne Bude, wo wir noch wat kriejenl Sich ze vajiftenl So'ne Idiotenl" Und ich erfuhr: die beiden hatten sich vergiftet! Der ein« er- zählt: wegen Arbeitslosigkeit, der andere: aus 5)ungerl Eines ist das andere und beides flucht dem Leben und schrie nach Gift. Gift ist Tod und Tod ist Vergessen: wer lebt und hungert, kann nicht vergessen! Und die Menschen sind wie Tiere: sie nehmen einander das Essen und keiner gibt dem anderen, weim nicht um Lohnes und ein«r Arbeit willen. Langsam ging ich nach 5zause. Aus dem Dunkel narrten mich ein« iveißgepuderte Clowngrimasse, ein sich verbeugender Komiker, nackte Miidchen. die Erotik tanzten, ein Schlager, den irgendwer wiehert«, Klirren, wie von Wein- und Likörgläsern, Rascheln zer- knitterter Zehntausendmarkscheine, Zoten und Radau. Irgendwo schien eine verzerrte höhnende Fratze mit grünlich schillernden Augen aufzutauchen und zu grinsen:Rummel!" Di« Fratze verschwand: an ihrer Stelle war ein blaßblaues Ge- ficht, müde und mager, gequält und gefoltert, mit dunklen Höhlen, aus denen die toten Augen des Messias weinten. An der Ecke unter dem Hochbahnbogen patrouillierten im Nacht- frost zwei Mädchen, die mir ihren Leib anboten gegen tausend Mark. Das wären also 10 Zigaretten oder 2 Mas Bier oder ein Viertel- pfund Wurst. Rummel oder Inferno oder nur Notturno...? Dl« Großstadt schweigt und frißt weiter, Menschen, warme, lebendige Menschenl___ Etwas über praktische wohnungshpgiene. Von Dr. med�N ordert Marx. Wenn man einem Berliner   Proletarier praktische Ratschläge zur Wohnungshygiene geben will, fällt einem unwillkürlich der Aus- spruch Dantes einLaßt alle Hoffnung fahren dahin, die ihr hier eintretet", denn in keiner europäischen   Großstadt ist wohl so viel Wohnungselend hinter guterhaltenen Fassaden verborgen, wie gerad« in Berlin   und wollen deshalb die Ausländer, die von der Wohnungsnot in den Ardeitervierteln hören, bei deren äußerem An- blick nicht daran glauben. Gerade hier ist wi« so vieles in Preußen- Deutschland   nur Attrappe au» der wilhelminischen Zeit. Schon allein di» Wohnungsdichiigkeit. d. h. di« Zahl der Bewohner eines Nauses, läßt bei einem Vergleich erschreckend« Schlüsse zu. In Berlin   wohn«n im Durchschnitt 77 Einwohner in einer Kaserne, in London   in einem.Hau» nu» 8. Gerad« in den ältesten Industrie- lLnd«rn England, Belgi«»! und Frankreich   sind di« Tin- und Zu>«f- famili«nhöus»» di« Regel, während noch Osten, besonders von Berlin  aus die Mietskasernen der Wohnungstyp für den Proletarier werden,