Nummer 10
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Das Lotterielos. Von Mich«l Thivars. Klein, moger, häßlich und voll Runzeln wi« ein vertrockneter Borsdorfer Apfel war Vater Landry, der Typus des alten geizigen französischen Bauern. Seit dem Tode seiner Frau hatte er die Landwirtschaft an den Nagel gehängt und lebte als Rentier ollein tn einem kleinen f>aus« am äußersten Ende des Dorfes. Wenn Ich sag«„allein", so ist das nicht ganz wörtlich zu nehmen! er hatte nämlich sein« alte Magd bei sich, die Brigitte : aber die zählte ja so wenig mitl Sie war etwas beschränkt, treu und ergeben wie ein Hund und voll aufrichtiger Bewunderung für ihren Herrn, der sich kein Gewissen daraus mochte, dieses willige Geschöpf aus- zubeuten. Ich brauche nicht besonders zu betonen, daß Brigitte im Dienst« des Geizhalses kein« Schöße gesamnielt hatte. Eines Tages, als Vater Landry. um die Kosten für den Hand- werker zu sparen, höchsteigenhändig die an den Dorfteich stoßende Mauer seines Grundstückes ausbesserte, fiel er ins Wasser. Ein paar Augenblick« paddelte er herum und schrie kläglich um Hilfe; aber niemand hörte sein Geschrei. Schließlich, am End« seiner Kräfte angelangt, wollte er gerade zum unwiderruflich letzten Mal« unter dem Wasserspiegel verschwinden, als Brigitte ihn bemerkte. Ohne einen Augenblick zu zögern, stürzt« sich das brav« Mädchen ln den Teich, und es gelang ihm. den Herrn und sich selbst aufs trockene zu bringen. Der Alte war ohnmächtig geworden. Als er die Augen öffnete, weinte die gute Brigitte: „Ach Herrt... Ich bin ja so glücklich daß der Herr nicht er- trunken sind!" Auch der Alte war glücklich. Cr empfand wohl ein leises Be- dauern, daß er sein« Kell« verloren hatte, dt« gleichzeitig mit ihm ins Wasser gefallen war, aber er besaß doch soviel Zartgefühl, nicht davon zu sprechen. Im Gegenteil. In der ersten Aufwallung ge- rührter Dankbarkeit erklärte er der Magd: „Du hast mich aus dem Wasser gezogen? Da» werde ich Dir nie vergessen, Brigitte , meine Tochter, ich werde Dir etwas schenken." „O Herr... das ist ja gor nicht nöttgl... Wozu denn?" „Ich werde Dir etwas schenken, jawohl!" Tatsächlich rief e.r noch am nämlichen Abend, nachdem er die Sache reiflich erwogen hatte, Brigitte in dl« Stube, zog feinen großen Lederbeutel aus der Tasche und entnahm ihm mit der Miene eines Menschen, dem«in Zahn gezogen werden soll— ein Zwanzigsousstück. «Hier, Brigitte ! Hier hast Du das versprodjen« Geschenk! Zwanzig So us... Das ist gerade soviel, wie ein Lotterielos kostet. Kauf Dir eins, und Du wirft 100 000 Frank gewinnen." Es geschah zum erstenmal in seinem Leben, daß Vater Landry sich zu einer solchen Freigebigkeit verleiten ließ. Di« Erinnerung daran verfolgte ihn lange. Er interessierte sich für da» Schicksal seines Zwanzigsousstücks über alle Maßen und fragt« Tag für Tag dl« Magd, ob sie das Los schon gekauft hätte. „Noch nicht, Herr!" antwortete sie jedesmal. Um diesen ewigen Fragen«in Ende zu machen, entschloß sie sich eines Tages, dem Drängen des Alten zu willfahren. „Ja, Herr, ich habe mir ew.es gekauft," antwortet« sie. „Wirklich? Welche Nummer?" „Nummer 34.. „Das ist gut! Das freut mich.. erwiderte der Alt«, der sich diese Zahl genau einprägte.„Du wirst es doch nicht verlieren?" „Ich werde es schon nicht verlieren! Der Herr können ganz unbesorgt sein!" Die durch das Intermezzo im Dorsteich für einige Zeit gestörten Leben sgewohicheüen Landrys und fein« Magd traten wieder in ihr« Recht«: wenig Essen, wenig Schlaf, viel Arbeitt... Landry selbst hatte sich über sein« Verschwendung beinah« getröstet, als er eines Morgen» beim Dorfbarbier, den er von Zeit zu Zelt aufzusuchen pflegt«, um gratis die Zeitung zu lesen,«in« furchtbare Ueberraschung erlebt«.
Dl« Zeltung veröffentlicht« das Resultat der Lotterieziehung. Am Kopf« der Gewinnliste standen fettgedruckt folgende Worte, di« wie Feuergarben vor den geblendeten Äugen des Alten zu tanzen schienen: „Der Hauptgewinn im Betrage von 100 00» Frank fiel auf die Nummer 34." Vater Landry stieß einen solchen Schrei des Entsetzens aus, daß der Barbier, der gerade den Schulmeister rasierte, vor Schreck feifrem sfunden«in Stück Ohr abschnitt. „Was haben Sie denn, Vater Landry," „Nichts, gar nichts," erwiderte der Alte, der sein« Kaltblütigkeit bereits wiedergefunden hatte. Und fein« Brill« zurechtrückend, las«r langsam noch einmal* indem er Silbe für Silbe buchstabierte. Diesesmal war er sicher, daß er richtig gelesen hatte. Dt« Nummer 34, da» von Brigitte gekauft« Lost... Er legte die Zeb tung fort und entfernte sich fassungslos in der Richtung nach seinem Hause. Brigitte hatte das frugal« Frühstück für ihren Herrn bereitet? Nüsse und Käse. Der Alt« setzte sich cm den Tisch, aber er könnt« nichts essen. Die Gemütsbewegung schnürte ihm die Kehle zu« sammen. Einige Tag« beobachtete er Brigitte verstohlen. Wußte sie schom daß sie 100 000 Frank gewonnen hatte? Nein, sie wußte«s nicht. Ohne zu ahnen, wi« scharf sie beobachtet wurde, erledigte di« Magd ihre täglichen Obliegenheiten mit ihrer gewöhnlichen Ruhe und Heiterkeit. Also, sie wußte nichts! Sollte er ihr di« Glücksbotschaft mitteilen? Nein, das ging über seine Kräfte! Der Gedanke war ihm uner« träglich, daß ein anderer diesen märchenhaften, unverhofften Gewinn einstreichen sollte, diese 100000 Frank, die mit seinem Zwanzigsous« stück, mit seinem schönen Geld gewonnen waren! Und di« Zelt verstrich. Und dazu stand in der Gewinnliste— er hatte sich ein Exemplar gekauft— ausdrücklich, daß di« innerhalb dreier Monate nach Schluß der Ziehung nicht abgehobenen Gewinn« der Lotteriedirettion zufielen! Vater Landry aß nicht mehr, schlief nicht mehr. Er magerte zusehends ab. Eines Morgens, nach einer, wie immer in den letzten Tagen schlaflos verbrachten Nacht, erhob sich Vater Landry mit einem ver- schlagenen Lächeln auf den dünnen blutleeren Lippen. Zunächst erteilte er Brigitte den Befehl, ein Huhn, das fetteste Huhn, zu schlachten und ein gutes Stück Speck in die Pfanne zu tun. Dann ging er selbst in den Keller und holte eine Flasche guten, alten Wein. Schließlich gab er der Magd Geld, um Kaffee, Zucker und Bräunt- wein zu kaufen. Brigitte fragte sich im stillen, ob ihr Herr verrückt geworden sei. Aber wie sperrt« sie erst Mund und Augen auf,<l?s der Altb ihr befahl, zwei Gedecke aufzulegen und ihm gegenüber am Tisch Platz zu nehmen. Brigitte hatte einmal gehört, man dürfe Geistes- kranken nicht widersprechen. Sie gehorchte also ohne Widerred« und fegt« sich sehr verlegen auf den äußersten Rand ihres Stuhles „Iß doch, trink doch, Brigitte , mein« Tochter!" nötigt« Landry. indem er ungeheure Stücke Fleisch auf ihren Teller häuft« und ihr Glos wieder und wieder füllte. Aber Brigitte sollte noch viel mehr staunen. Als der Kaffe« serviert war, erklärt« ihr der Alte ohne weitere Einleitung: „Die Sache D nämlich die, Brigitte , meine Tochter.». hör. genau zu!... Ich will mich verheiraten!" „Warum nicht. Herr?" pflichtete sie bei.„Der Herr ist noch immer sehr rüstig." „Na. wenn das Deine Ansicht ist, dann können wir uns ja hei. raten... wir beide..." Als Brigitte dies hört«, blieb ihr der Happen im Mund« stecken. Nach dem Brathuhn, de,, Wein und dem Kaffee war st« auf alle möglichen Exzentrität«,, gefaßt— aber auf dies« nicht«