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Beer Herriots politische Maximen.

Ein Geistesverwandter Walter Rathenaus.

In Edouard Herriot , dem neuen franzöfifchen Ministerprä­denten, ist em Politiker zur Herrschaft gelangt, der, unverbraucht und vom parlamentarischen Cliquenwesen unberührt, an die Auf­gaben herantritt, ein neues Frankreich zu schaffen. Schaffen ist überhaupt das Hauptwort in den programmatischen Ausführungen feiner sozialpolitischen Schriften. Schaffen für die soziale Lebens­befferung, für die Bierte Republik", die die Politik der Vereins­meierei, der Fraktionen und der Bierbankphilister durch die demo­fratische nationale Tat ersehen soll". Schaffen für eine Politik der Gütererzeugung, die Frankreich den Händen der Ausbeuter, Spitze buben, der Geistes- und Herzenstrüppel entreißt, für eine Politik fozialer Gerechtigkeit und internationaler Solidarität, die den Ar­beitermassen das höchstmaß von Lebensbehaglichkeit und Frankreich die höchstmögliche Zahl tüchtiger Bürger verschafft, für eine Politik endlich, die als Endziel eine Internationale der nationalen Staa­ten" ins Auge faßt.

Edouard Herriot entstammt im Gegensatz zu feinem britischen Amtskollegen Macdonald dem Bürgertum, nicht dem Proletariat; er tommt auch nicht aus den Gewerkschaften zur Bolitit, sondern ist vom Ratheder in die politische Arena herabgestiegen. Im Jahre 1872 zu Troyes geboren, wirfte er nach vollendetem Studium eine zeitfang als Gymnasiallehrer und begann seine schriftstellerische Tätigkeit mit literarhistorischen Studien über die schöne Madame Récamier und Frau von Stael, Arbeiten, die von gründlichen Studien, ge­pflegter Darstellung und Schärfe des Urteils zeugen und Samit bereits die Vorzüge offenbaren, die die späteren fozialpolitischen Werte des Bürgermeisters von Lyon in so hohem Grad auszeichnen. Diese fozialpolitischen Schriften, die als Glaubensbekenntnis des Politikers Herriot heute besonderer Aufmerksamkeit wert sind, zeigen in Form und Stil eine auffallende Aehnlichkeit mit den literarischen Werken Ramsay Macdonalds, während inhaltlich die Geistesver­wandtschaft mit den Gedankengängen Walter Rathenaus nicht zu verkennen ist.

Herriots Programm für den Wiederaufbau des sozialen Zu­furiftsstaats gründet fich auf eine sozialethische Methodit, die für die Lösung der einschlägigen Probleme neue wertvolle und durch Er­fahrung und Wissenschaft gestützte Anregungen beibringt. Die Re­formen, die er für Schule, Haus, technische Bildung, künstlerische Erziehung, für den Arbeiterschuß, das Problem der Wiederbevölke­rung, die politische Emanzipation der Frau, die staatliche und fom­munale Finanzwirtschaft vorschlägt, bilden in ihrer Gesamtheit ein festgefügtes Gebäude der Gesetzgebung, deffen zuverlässige Grund­lagen auf der Realität der gegenwärtigen Lebensbedürfnisse be= ruhen und dessen Spitze in die Sphäre einer höheren Zivilisation hineinstrebt. Charakteristsch ist beispielsweise das folgende Bild, das nicht nur für Frankreich Geltungsrecht hat: Frankreich , wie es sich vor dem Kriege zeigte, erscheint mir wie das Bild eines prächtigen Hauses. Zu ebener Erde und manchmal selbst im Keller arbeiten Kunsthandwerker, Arbeiter, Bauern, kurz. alle diejenigen, deren Horizont von ihrer Tagesarbeit begrenzt ist. Im ersten Stock ent­wickelt sich der Elementarunterricht, im zweiten der der mittleren Bürgerschule mit allen sozialen Begleiterscheinungen, die sie hervor­ruft oder von denen sie abhängt. Darüber befindet sich die Hoch­schule, in der die Gelehrten, Künstler, Schriftsteller vereint sind. Es ift, wie gesagt, ein prächtiges Haus; es hat nur einen Fehler: es entbehrt der Treppen. Bon Stockwerk zu Stockwerf fann man nur mit Leitern gelangen. Zuweilen geschieht es wohl, daß ein Arbeiter bis zur Gipfelhöhe des höchsten Wissens emporsteigt, wie der Liebhaber der provencalischen Legende, der auf die Gefahr feines Lebens bis zur höchsten Spitze eines Turmes emportletterte, um sich einen Kuß von der Geliebten zu holen. Aber das sind feltene Aus­nahmen. In der Regel wuchert das Unkraut der Unbildung, das von allen Formen der Not das zählebigste ist. Wird die Jugend, der die Aufgabe zufällt, Frankreich wieder aufzubauen, die Kraft auf­bringen fich von den Sklavenfeffeln zu befreien, um das große Werk Der Bildungserhebung und der Brüderlichkeit durchzuführen?"

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Herriot ist ausgesprochener Individualist im Sinne eines vom fozialen Geist erfüllten Individualismus, wie ihn Rathenau vertrat. Wenn wir die Eintracht unter uns neu schaffen und erhalten wollen," schreibt er, dürfen wir gerechterweise nicht den niedrigsten Boltstlassen alle Opfer auferlegen. Der Kollektivbesiz des Staats und der Kommunen muß weiter ausgedehnt, das Berhältnis zwi­schen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vom Standpunkt eines freien Geistes ins Auge gefaßt werden, eines Geistes, der sich ausschließlich von dem Gedanken leiter läßt, den Gewinn des Einzelwesens zum Borteil des Allgemeinwohls zu verwenden. Die unerläßliche Ueber­zeugung der Güter wird nur möglich sein, wenn die Zusammen­arbeit zwischen Kapital und Arbeitsfraft auf eine neue Grundlage gestellt wird. Der Grundsatz des Achtstundertags darf dabei in feinem Fall erschüttert werden."

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Herriot ist Revolutionär, aber nicht im Sinne eines gewalt­famen Umfturzes, sondern in dem einer liberalen und bürgerlichen Umstellung. Am besten wird man den radikalen Elementen ent­gegenwirken," führt er aus, wenn man der demokratischen Ent­wicklung die Wege ebnet. Die Gesellschaftsordnung wird sich in methodischen Werdegang umbilden, ohne melodramatische Begleit­musik und ohne schwere Erschütterungen." Herriot gibt sich überall als nationalempfindender Politike: zu erkennen. Aber er ist weit entfernt davon, ein Nationalist zu sein. Er ist Patriot, aber fein Kriegsschürer. Deutschland gegenüber vertritt er wohl das Recht auf Reparationen; gleichzeitig aber erstrebt er eine Internationali­

fierung des Kredits und der Sicherheitsleistung, um die Möglichkeit zu erhalten, die Ruhrbefehung aufzuheben und einer Situation ein Ende zu bereiten, die für den Frieden Europas außerordentlich ernst und gefährlich iſt."

Ein alter märkischer Wallfahrtsort.

Bon Albin Michel .

Dem fleinen Städtchen Wilsnad in der Priegnig ist es heute gewiß nicht mehr anzusehen, daß es vor 500 und 400 Jahren ein berühmter Wallfahrtsort war. Und doch gab es Zeiten, wo tausende Menschen nach Wilsnad zogen, um dort von ihren Gebrechen Hei­lung au fuchen. Die Geschichte der Stadt Wilsnack geht bis auf die Zeiten des Fehdewesens zurück. Ein Ritter der Briegnig aus dem Geschlecht derer von Bülow, der mit dem Bistum Havelberg in Fehde lag, brannte im Jahre 1383 am Tage Mariä Himmelfahrt die Kirche zu Wilsnad nieder. Bei den Aufräumungsarbeiten will der Priester zu Wilsnack einige Tage später das in der abgebrannten Kirche auf­bewahrte Büchschen mit drei Hostien wiedergefunden haben. Dabei woll er weiter die Bemerkung gemacht haben, daß inmitten einer jeden Hoftie ein Blutstropfen stand. Nun galt es als erwiefen, daß der Leib Chrifti, den ja die Hoftien darstellten, Blut geschwigt hatte. Die Wundermär verbreitete sich rasch in die Umgebung, sie drang weiter vor, hinaus ins Reich, und so wurde Wilsnad ned) und nach ein berühmter Wallfahrtsort.

In großen Scharen tamen die Bilger aus allen Teilen des Rei­ches, aus Rußland , Schweden , Dänemark , Ungarn usw., um Hei­lung zu suchen. Mit der Zeit waren in Wilsnack viele Gasthöfe und Herbergen entstanden, aber der Strom der Zuwanderer war doch wohl manchmal so groß, daß nicht alle Pilger in Wilsnad selbst untergebracht werden konnten. Auch Handwerker und Handelsleute aller Art siedelten sich in Wilsnack an, denn dort war ein flotter Umsatz zu erzielen. Der Bischof von Havelberg , zu dessen Bistum Wilsnad gehörte, fah in dieser Wundermär der drei blutigen Hoftien bald eine gutfließende Geldquelle, und so beschloß er, an die Stelle der alten Kirche eine neue, viel größere zu bauen, die Wunder­blutkirche", das ist die noch heute bestehende Wilsnacker Stadtkirche. Durch eine gläubige Menge wurde die Wundermär von Wilsnac immer weiter verbreitet, Ablaßbriefe der Päpste und des Bischofs von Havelberg machten auch noch Reklame für den Wallfahrtsort Wilsnack , so daß dieser dem Bischof immer mehr Geld einbrachte.

Bald wurden aber auch Klagen laut, daß das Wunderblut von Wilsnad nur zur Ausnukung leichtgläubiger Menschen diene. Die Wunderblutkirche wurde zu einem Kaufhaus und zu einer Geld­främerei". Als ein Bürger von Prag beim dortigen Bischof die An­zeige machte, daß er in Wilsnad betrogen worden sei, fehte der Bischof von Prag drei Personen ein, die ein Gutachten darüber ab­geben sollten, ob es in Wilsnack mit rechten Dingen zugehe. Die drei Beauftragten, unter denen auch Johann Huß war, zogen nach Wilsnack , um sich dort das Leben und Treiben anzusehen. Sie gaben auch ihr Urteil dahingehend ab, daß das Wilsnader Wunderblut nur in der Einbildung der gläubigen Menge bestehe. Darauf erließ der Prager Bischof in feinem Bistum eine Warnung vor dem Bilgerzug nach Wilsnad. Als dann Johann Huß im Jahre 1415 auf dem Scheiterhausen starb, fam diese Warnung wieder aus dem Gedächt­nis. In Wilsnack aber blühte das Geschäft der Heilung" und der Sündenvergebung weiter. Erst der Erzbischof von Magdeburg machte in den 50er Jahren des 15. Jahrhunderts Anstrengungen, in Wilsnack Einhalt zu gebieten. Er stieß aber auf den schärfften Wi­derstand des Bischofs von Havelberg , der sich seine gutfließende Geld­quelle nicht verschütten lassen wollte. Zuguterlegt wurde die päpft­liche Entscheidung angerufen. Diese fiel zugunsten Wilsnads aus. Ja, in den folgenden Jahrzehnten wurden fogar für die Wilsnacer Pilger noch Ablaßbriefe herausgegeben. Erst der Prediger Ellefeld machte dem Treiben in Wilsnad ein Ende, indem er die drei Blut­hoftien am 28. Mai 1552 ins Feuer warf.

Sommerzeit oder- Weltzeit?

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Bon Walter Borgius .

Die Frage der Zeitrechnung war fürzlich wieder einmal Gegenstand des öffentlichen Interesses anläßlich der Debatte über die fogenannte Sommerzeit". Einige Staaten haben sie jetzt neu ein­geführt, andere sie abgelehnt, wieder andere berieten noch darüber. Da erhebt sich bei dem Grübler die Frage, ob nicht unsere heutige 3eitrechnung überhaupt unzwed mäßig geworden ist und einer grundsäglichen Reform bedarf.

Bis vor einem Menschenalter etwa herrschte bekanntlich überall die Lokalzeit". Man schrieb allenthalben 12 Uhr, wenn die Sonne im Zenit stand. Infolgedessen hatten sämtliche Orte verschiedene Seit, außer denjenigen, welche aufällig auf ein und demselben Meri­dian lagen. Das war eine der Natur entnommene ursprüngliche Rechnungsweise.

Mit der enormen technischen Entwicklung des Verkehrswesens aber, welche die Erde verkleinerte und die Menschen zusammenrüdte, wurde fie ebenso unmöglich, wie beispielsweise die ursprüngliche, natürliche Maßrechnung nach Fuß, Schritt usw. Aeltere Leute wer­den sich noch entsinnen, wie man früher bei einer Eisenbahnfahrt an jeder Station von neuem die Uhr vergleichen und umstellen mußte, daher auch niemals aus den Ankunfts- und Abfahrtszeiten des Kurs buches ersehen fonnte, wie lange die betreffende Eisenbahnfahrt tat­sächlich dauerte. Das ließ sich im Zeitalter der Maschinen nicht mehr aufrechterhalten: Genau ebenso, wie die Praxis des Lebens für große