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ohne Pflege, ohne Erziehung, ohne Schulbildung. Keine romantische Geschichte klebte ihr an, sie war keine ,, beschmußte Taube", deren Federn einst weiß und glänzend gewesen: sie war die Tochter einer schnapstrinkenden Scheuerfrau, selbst noch ein Kind, wurde sie ausgeschickt, andere Kinder zu beaufsichtigen, sie lernte kein Geschäft, keine regelmäßige Beschäftigung und kannte Nichts, als die Straßen und Musikhallen. Sie hatte aber noch das Gute, daß sie nicht trant, oder doch nicht viel Etwas trinken sie Alle; auch hatte sie nie ,, Unannehmlichkeiten" mit der Polizei gehabt, und noch in keinem Gefängniß gesessen. Sie war einfach eine der Verlassenen seit ihrer Geburt verlassen von der Gesell schaft, der es gleichgültig war, ob sie in den Kloaken der Hauptstadt untersank oder schwamm. Ein vornehmer Herr hatte sie einige Jahre vorher aufgelesen". Sie war damals ungefähr 15 Jahre alt; bei ihm hatte sie sich einen gewissen äußeren Schliff und ziemlich feine Manieren angeeignet. Sie war ihm dankbar dafür, allein sie liebte ihn kaum. Er war älter als sie, verhältnißmäßig alt, verheirathet, hatte erwachsene Töchter und Söhne, war Kirchenvorstand, das Muster eines christlichen Gentle man*), wohnte draußen in Bayswater **) und stand allgemein in hoher Achtung. Nebenbei hatte er aber auch ein Auge für hübsche Mädchen; für Mary hatte er ein kleines Haus eingerichtet, wo sie, ihren Erzähligen nach, Manches gelernt hatte, was ihr nützlich war. Von Natur sehr aufgeweckt und anstellig, wäre sie unter halbwegs günstigen Bedingungen eine Zierde der Gesellschaft geworden. Er wurde ihrer bald müde. Das ist nun einmal so bei diesen Herren; was konnte ihn ein so unwissendes Mädchen fesseln, nachdem er sich an ihrer Schönheit gesättigt? Er machte ihr ein hübsches Geschenk- ah! er war ganz nobel" gegen sie und löste das Verhältniß. Mary wurde auf die Straße gesetzt mit zerstörtem Ruf und dem Geschmack für Wohl
Sie hatte aber doch während der zwei bis drei Jahre ihrer ,, Protektion" gelernt, sich selbst und ihre Wohnstätte nett zu halten und modische Näharbeiten zu verrichten; doch dies genügte nicht, sie zu ernähren. Zwölf Stunden Confektionsarbeit ge währten ihr nicht Brot, Kleidung und Wohnung; Blumenverkauf ebenfalls nicht, aber von ihren jugendlichen Reizen konnte sie leben. Deshalb verkaufte sie dieselben, als das Einzige, was sie zu verkaufen hatte; und so bekam sie Brot ,, aus des Teufels Backofen ", weil sie kein anderes bekommen konnte. Es war ein schlechtes Leben, und das fühlte sie auch. Und obendrein ein schweres Leben. Wer diese Mädchen nur in den Stunden ihrer Schaustellung sieht, gekleidet nach der feinsten Mode, die Königinnen der Nachthäuser und Tanzsalons, hat keinen Begriff von dem wirklichen Elend der Aermeren dieser Klasse, denn selbst hier gibt es Klassenabstufungen. Kein Wunder, daß sie sich dem
*) Sprich: Dichentlmänn, eig. Edelmann; ein feiner Herr, nach der vornehmen Definition: ein Mensch männlichen Geschlechts, der ohne Arbeit von seinem" Gelde lebt, und sich dem Zuchthaus fern hält, oder es doch höchstens mit dem Aermel streift". **) Eine sehr respektable" Vorstadt Londons ."
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Trunke ergeben, die armen Dinger, denn was haben sie auszustehen und zu leiden! Wie verfluchen viele von ihnen ihr Leben, wenn sie fühlen, wie sie tiefer und tiefer in den Schlamm sinken, und wünschen, sie wären gestorben, ehe sie dieses Geschäft begonnen. Nicht, daß ich sagen wollte, sie grämten sich den ganzen Tag und wären unaufhörlich von Gewissensbissen gepeinigt die menschliche Natur erträgt keinen solchen Hochtruck, allein nichtsdestoweniger verabscheuen sie ihren Beruf, wann sie nicht vom Sinnentaumel überwältigt sind und ihrer Eitelkeit nicht geschmeichelt wird. Aber tugendhafte Frauen werden sich entsetzen sie betrachten sich als Märtyrer der Gesellschaft, und so wie die Menschen und Dinge einmal sind, als ein nothwendiges Uebel; sie glauben, daß sie die tugendhafte Frau, das reine Mädchen erst möglich machen. In ihrer geistigen und sittlichen Umnachtung sind sie sich nur dunkel bewußt, daß die Blume unserer Civilisation, die Ehe, welche nur eine Frau gestattet, in dem Koth der Prostitution wurzelt, und daß ihnen die„ Selbstbeherrschung" geschnldet ist, welche man an den vornehmen Herren bewundert, die nicht eher heirathen, als bis sie im Stande sind, eine Familie gut zu erhalten, und die uns Arbeitern so oft als nachahmenswerthes Beispiel vorgeführt werden, uns Arbeitern, die wir ehrlich ein Mädchen unserer eigenen Klasse lieben und, seltene Ausnahmen abgerechnet, mit diesen Mädchen nichts zu thun haben. Die Nachdenkenderen unter ihnen, die das Bewußtsein ihres ,, volkswirthschaftlichen Nutzens" haben, sind erbittert darüber, daß sie mit Schande beladen sind, und bemitleiden sich selbst als Opfer, als Sündenböcke der Gesellschaft und nicht als deren Entweiherinnen. Freilich, sie grämen sich nicht über die hochnäfige Verachtung der feinen Damen, deren Tugend sie bewahren helfen, denn sie haben ihren Ersatz. Die feinen Damen bilden sich ein, weil sie sich vor jeder freundlichen Berührung mit ihnen scheuen, thue ein Jeder desgleichen. Dem ist aber nicht so. Anständige Frauen der unteren Klasse verkehren mit ihnen, wenn auch nicht vertraulich, so doch freundlich; ferner haben sie Freundinnen aus ihrer eigenen Klasse, und deren nicht wenige; und wir wissen, daß, wenn Viele das gleiche Ueble thun, es dem Einzelnen leichter erscheint. Die Herren, die mit ihnen gehen, sind oft gutmüthig, und nicht brutaler mit ihnen als die meisten Männer mit den meisten Frauen außerhalb der künstlichen Schranken der Gesellschaft. Manchmal allerdings sind sie gemein, doch das sind nur solche Männer, die gegen ihre eigenen Frauen und Töchter sich nicht besser betragen. So find die armen Mädchen", wie sie sich selbst nennen, doch nicht ganz von aller menschlichen Sympathie ausgeschlossen, gleich den Aussätzigen der alten Zeit, obschon ihr Kreis sehr eng gezogen ist. Und haben auch manche unter ihnen Amrandlungen von Selbstverachtung und Neue, so nehmen doch andere die Sache kühler und fassen ihren Beruf als ein rechtmäßiges Geschäft auf, ebenso rechtmäßig, wie das Geschäft eines Gastwirths, der geistige Getränke verkauft und damit oft eines Mannes Familie des Brots beraubt und ihn vielleicht zum Mörder oder Tollhäusler macht. ( Fortsetzung folgt.)
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Am 22. Januar war der Jahrestag eines der denkwürdigsten Ereignisse der Neuzeit der polnischen Schilderhebung von 1863. In Warschau wurde das Signal gegeben, und obgleich ein un bewaffnetes Volk sich der größten Militärmonarchie der Welt gegenüber befand, so kämpften die Polen , im Bewußtsein ihrer gerechten Sache, mit solchem Heldenmuth, daß es den Russen schließlich nur mit preußischer Hülfe Herr von Bismarck hatte wenige Monate vor dem Ausbruch des Aufstands die Zügel der Gewalt in die Hände bekommen möglich ward, für den Augenblick der Bewegung Herr zu werden. Nur für den Augenblick! Polen lebt, lebt in dem Herzen des Polenvolks, lebt in dem Herzen aller Völker, die für Gerechtigkeit und Freiheit begeistert sind und in dem russischen Czarenthum den
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Erbfeind der Kultur, das mächtigste Bollwerk der Barbarei und des Despotismus erblicken. Das Polenblut, welches ein volles Jahrhundert hindurch auf jedem Schlachtfeld der Freiheit in der alten und neuen Welt vergossen ward, es ist nicht umsonst geflossen, und in den Vereinigten Staaten der Welt wird Polen einen ruhmvollen Platz einnehmen. Die Widerherstellung Polens ist nicht blos eine Pflicht der Dankbarkeit, nicht blos eine Forderung der Gerechtigkeit, sie ist eine politische Nothwendigkeit. Und insbesondere das deutsche Volk, dessen Regierungen sich so schwer an Polen versündigt haben, darf niemals diese Pflicht, diese Forderung, diese Nothwendigkeit aus den Augen verlieren. Ein freies Deutschland ist undenkbar ohne ein freies Polen . Das Bild in unserer heutigen Nummer stellt eine