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3wei Pariser Zufluchtshäuser vor hundert Jahren.
In dem hübschen und stattlichen Dorfe Gentilly, einige Hundert Schritte von der Barriere d'Italie, erhebt sich auf einer Bodenerhöhung, seine Fronte den Häusergruppen des Dorfes zu gekehrt, ein großes, aus mehreren Flügeln, Binnenhöfen und Quergebäuden bestehendes, unregelmäßiges Schloß aus der Zeit Ludwigs des Dreizehnten über einer weiten, hügeligen Ebene, welches im vorigen Jahrhundert mit mehr Recht, als irgend ein anderes Gebäude der großen Stadt Paris den Namen eines Hauses der Armen und der Elenden verdiente. Das Schloß von Bicêtre ist nicht allein das älteste Pariser Irrenhaus, sondern es diente auch zugleich allen Klassen der Armen, Kranken und Elenden als Aufenthalt, welche man nirgends anders unterzubringen wußte. Bicêtre", sagt Professor A. Bouchardat *),„ vereinigte in seinen weiten Räumen Greise, Blinde, Epileptische, Syphilitische, Strophulöse, unheilbare Kranke, Wahnsinnige, Blödsinnige und Kinder; Alles war dort wild durcheinander gemischt, die Geschlechter, die verschiedenen Altersstufen und die Krankheiten. Die Armen schliefen dort zwei und sogar zu Vier in einem Bette -man mußte hundertundfünfzig Francs zahlen, wenn man ein Bett für sich allein haben wollte; außerdem diente das Schloß als Gefängniß. In dem Hospiz war das Verbrechen mit dem Elend durcheinander gemischt."
Aber auch als Findelhaus hat das Schloß von Bicêtre im vorigen Jahrhundert dienen müssen. Die Königin Anna von Desterreich, die Gemahlin König Ludwig des Dreizehnten, schenkte den kleinen, unglücklichen Geschöpfen, welche bis dahin im Findelhause am Thore St. Victor in Paris untergebracht waren, das Schloß zum Aufenthalt.
Die Zustände im Schlosse von Bicêtre müssen namentlich im vorigen Jahrhundert entsetzlich gewesen sein. Sie waren ein Sie waren ein Spiegelbild des vor der großen Revolution in Frankreich herrschenden Elends, welches Louis Blanc in so ergreifenden Zügen in seiner Geschichte der französischen Revolution schildert, wo sich Hunderttausende von Bettlern bandenweise auf allen Landstraßen umhertrieben und die Almosen nöthigenfalls wie eine Steuer mit Gewalt eintrieben.**) Alle Schilderungen aus den Pariser Krankenund Armenhäusern der damaligen Zeit sind entsetzlich. Die Zustände im Zufluchtshause von Bicêtre müssen aber doch die Zustände in allen Krankenhäusern und Zufluchtshäusern übertroffen haben.
Cullerier sagt in seinem bekannten Werke***):„ Die syphilitischen Mädchen und Frauen, welche nach Bicêtre gebracht wurden, waren durch lasterhaftes Leben, durch schlechte Nahrung und durch eine Krankheit, welche man hatte fürchterliche Fortschritte machen lassen, vollständig heruntergekommen. Sie starben in großer Zahl schon während ihrer Behandlung. Im Jahre 1720 entzog man ihnen den größern Theil des Fleisches, welches die Verwaltung ihnen bewilligt hatte; statt Fleisch gab iman ihnen Käse und Butter. Man vertheilte unter ihnen dieselbe Fleischsuppe, welche man den Armen gab, die nicht krank waren, und diese erhielten nur Ein Pfund Fleisch während der ganzen Woche."
Im Jahre 1730 befanden sich in Bicêtre vierhundert Syphilitische. Sie bewohnten ein enges, wenig gelüftetes Lokal, welchem an mehreren Stellen der Einsturz drohte. Die Kranken befanden sich dort in einem höchst traurigen Zustande. Diejenigen, welche ihre ärztliche Behandlung erwarteten, waren mit Geschwüren bedeckt; die andern, welche geheilt waren, erschienen kraftlos und ausgemergelt. Bäder, deren Anwendung bei derartigen Krankheiten so heilsam und förderlich ist, waren in Bicêtre unbekannte Dinge.
D. Marechal, erster Chirurg König Ludwig des Fünfzehnten, erstattete dem Könige einmal über die in Bicêtre herrschenden Zustände folgenden Bericht:„ Ich habe syphilitische Kranke ge
*) Nouveau formulaire magistrale par A. Bouchardat. Paris . **) Louis Blanc , Histoire de la Révolution française. Paris . ***) Notes historiques sur les hôpitaux, établis à Paris .
sehen, welche soeben geheilt waren. Sie waren ziemlich gut hergestellt; aber mit ihrer Gesundheit sah es schwach aus. Ich habe aber auch Kranke gesehen, welche sich noch nicht in ärztlicher Behandlung befanden- und ich gerieth in Schrecken über ihren entsetzlichen Zustand." Aber selbst der mächtige Name Marechal's war nicht im Stande, dauernde Verbesserungen in diese entsetzlichen Verhältnisse einzuführen. Im Jahre 1784, also kurz vor der Revolution, besichtigte der damalige Minister des Innern, Herr von Breteuil, Bicêtre und war, wie er sagt ,,, entrüstet über den schrecklichen Zustand, in welchem sich die Kranken in Bicêtre befanden." Aber trotz der Entrüstung des Ministers sah es im Jahre 1787 in Bicêtre gerade ebenso aus, wie im Jahre 1784. Das lag daran, daß alle in Bicêtre angestellten Aerzte und Chirurgen von der Bestechung und vom Raube lebten und durch Bestechung und Raub reich wurden. Alle Aerzte in Bicêtre", erzählt der Chirurg Lallement, der in seiner Jugend in Bicêtre angestellt gewesen war ,,, bereicherten sich dort in sehr kurzer Zeit; denn da sie das Recht hatten, in einen Saal zuzulassen und aus demselben zu entfernen, wen sie wollten, so wurden Diejenigen, welche Geld besaßen, sofort allen Anderen vorgezogen. Man kannte ganz allgemein die Mittel und Wege, welche man einzuschlagen hatte. Es genügte, sich an den Bedienten eines der dortigen Aerzte zu wenden und ihm drei Goldstücke im Betrage von zweiundfiebenzig Francs einzuhändigen."
Ein in seiner Jugend in Bicêtre angestellter Schreiber, der später Aufsichtsbeamter in der Salpetrière war, sagt über die damaligen Zustände in Bicêtre: Alle Säle waren sehr niedrig und mit Betten bedeckt, von denen jedes immer acht Kranke aufnehmen mußte. Der Geruch war, weil man die Zimmer nicht lüften konnte, wie man sich wohl denken kann, ganz entsetzlich. Die Unglücklichen, welche in Bicêtre zu gefährlich erkrankten, wurden auf Bahren in das Hotel Dieu gebracht. Die aus Bicêtre nach dem Hotel Dieu führenden Straßen waren immer mit Bahren bedeckt. Es war oft ein scheußlicher Anblick. Unter dem Vorwande, von den Vorübergehenden Hülfe und Almosen für die Kranken zu erbitten, deckten die Träger die Wunden der Kranken auf und setzten dieselben in dieser Weise bei jedem Schritte den Blicken der Vorübergehenden aus."
Am eingehendsten sind die Schilderungen Michael Culleriers, eines der bedeutendsten Aerzte der damaligen Zeit, ein rechtschaffner, humaner und unterrichteter Mann, der kurz vor der Revolution die Stelle als oberster Chirurg in Bicêtre erhielt und mit dem eine neue Aera für die dort untergebrachten Kranken begann. Nach einer genauen Beschreibung der Säle, Fenster und Betten drückt er sich folgendermaßen aus:„ Die Zahl der Kranken, welche in diesen Sälen aufgehäuft sind, ist kaum glaublich. Man würde versucht sein, zu glauben, daß es gar nicht möglich sei, in dieser entsetzlichen Luft zu existiren, wenn die Thatsache nicht auch die Möglichkeit herausstellte. In den Räumen, wo sich die Kranken befinden, die ihrer ärztlichen Behandlung entgegensehen, schläft die eine Hälfte derselben von 8 Uhr Abends bis 1 Uhr Mitternachts; die andere Hälfte schläft von 1 Uhr Mitternachts bis 7 Uhr Morgens. 7 Uhr Morgens. Es ist nämlich immer nur Ein Bett für acht Kranke vorhanden. Auf diese Weise bleibt den Kranken nur die Möglichkeit, die eine Hälfte der Nacht im Bette zuzubringen, während sie die andere Hälfte der Nacht wachen müssen. Die Räumlichkeiten selbst find dunkel und mit jeder Art Unreinlichkeit ausgestattet. Die Fensterkreuze sind vernagelt, so daß es unmöglich ist, die Fenster zu öffnen, um Luft einzulassen. Man hat die Fenster deshalb zugenagelt, weil sie, falls man sie geöffnet hätte, zusammengebrochen wären. Das sind keine Krankensäle das sind Verbrecherzellen! Den Fußboden sieht man gar nicht mehr, er ist mit Schmutz bedeckt. Die Strohsäcke sind mit Stroh gefüllt, welches man seit mehreren Jahren nicht mehr erneuert hat. Vorhänge und Bettdecken bestehen aus Lappen und Lumpen und das Bettzeug ist mit den Auswürfen und mit dem Eiter aus