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Victor Hugo sagte einmal, wenn man die heutigen Kultur-| ihre Herkunft verdanken, und von der man nur deshalb bis jetzt länder mit denen des Alterthums vergliche, könne Deutschland noch nichts gewußt hat, weil zu ihrer Zeit keiner der Betheiligten füglich mit Indien zusammengestellt werden. Es sind verschiedene der Schreibekunst mächtig war, sodaß erst die gelehrte Forschung richtige Gesichtspunkte, die bei diesem Vergleich zur Geltung unserer Tage diesen verschollenen Nationalruhm wie einen verkommen. Indien wie Deutschland ist von jeher der Sitz eines senften Nibelungenschatz mühsam heben mußte. großen Volkes gewesen ohne einen großen Staat. Beide Nationen haben ihre politische Kraft meist in zahlreichen kleinlichen Bilbungen zersplittert. Ein übergreifendes Großkönigthum hat hier wie dort zuweilen mit Glanz dominirt, ist aber nie zu dauernder, solider Zusammenfassung der Einzelstämme gekommen. Die Einheit war eine wesentlich literarische und philosophische. Und welche Aehnlichkeit in der Literatur und Philosophie Indiens und Deutsch lands ! Gemüthvolle Formlosigkeit und tiefsinnige Nebelei hier wie dort, und zwar viel stärker und ausschließender als bei allen fonfurrirenden Völkern nur der Vorzug weit größerer Originalität und Produktivität auf Seiten Indiens . Demgemäß hier wie dort eine mangelhafte Gestaltungskraft in Bezug auf die Formen der Kunst, sobald dieselbe ihre Kindheit hinter sich läßt, und eine traurige Abhängigkeit des Gemeinwesens, sobald dasselbe mit fräftigen fremden Staatsförpern in Berührung kommt. Aber in beiden Ländern auch der Trost einer durch uralte Erinnerungen frisch erhaltenen Volkskraft, die an Rhein und Elbe so gut wie an Indus und Ganges das Beste für die Nation noch von der Zukunft erhoffen läßt.
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Mehr als durch dies Alles hat sich Victor Hugo jedoch bei seinem Vergleich dadurch bestimmen lassen, daß beide Länder nach seiner Meinung- Bölfermütter sind, deren Sendlinge den umliegenden Nationen Entstehung oder Verjüngung gegeben und ihnen damit eine gewisse Abhängigkeit des Nationalcharakters von dem der alten gemeinsamen Heimath verliehen haben. Für Indien mag die Richtigkeit dieser Anschauung dahingestellt bleiben; für Deutschland trifft sie jedenfalls zu, denn, wie bekannt, sind wirklich in der Völkerwanderung nicht nur die Engländer und Niederschotten als neue Völker von Deutschland ausgezogen- wie dies etwas früher, nach eigener nordischer Ueberlieferung, die Skandinavier gethan hatten sondern auch die Franzosen , Spanier, Portugiesen und Italiener haben damals durch germanische Einwanderer ihre selbstständige Absonderung als lebenskräftige Stämme aus der breiartigen Masse des verwesenden Römerthums erlangt nicht zu gedenken der schwer bestimmbaren germanischen Elemente, die in den Ostländern bis zum Schwarzen Meere von einer zeitweiligen deutschen Occupation dieser Gegenden her sizzen geblieben sind. Gewiß mit Recht hat der geistreiche Franzose auf diese Stellung Deutschlands als Völkerwiege als auf einen charakteristischen Zug Nachdruck gelegt. Unser Vaterland erscheint dabei ein wenig als europäische Kinderstube, und das kennzeichnet ja unsere geistige Atmosphäre ganz trefflich, und zwar auch in ihren Vorzügen. Es ist gewiß ein Ruhm, der uns damit zu Theil wird. In unserer bescheidenen Zeit vor hundert Jahren hat uns Klopstod gerade an diese Dinge erinnert, wenn er uns Stolz einflößen wollte.
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Dieser allerdings sehr eigenartige Ruhm eigenartig, weil man bei ernster Ueberlegung des Sachverhalts leicht auf die Meinung kommen fönnte, wir hätten uns vor anderthalb tausend Jahren zu Gunsten unserer Sendlinge so ziemlich ausgeschöpft, und der beste Theil altgermanischer Nationalkraft sei mit jenen Angeln, Sachsen , Franken, Gothen, Longobarden und Burgundern über die Grenze gegangen nur die verhältnißmäßige Crapüle jei daheim geblieben und hätte uns edlen Neudeutschen ihre Art dieser Ruhm also wird nun noch gewaltig erhöht durch neue Forschungen auf dem Gebiet der Urgeschichte, durch welche es sich ergiebt, daß schon mindestens etwa zweitausend Jahre vor der bekannten Völkerwanderung, also etwa viertehalb tausend Jahre vor der Gegenwart, unser Deutschland eine ähnfiche, noch großartigere Völkermasse in's Weite gesandt hat, der die Hellenen, Arnauten, Römer, Kelten, Briten , Gaelen, Litthauer, Russen, Bolen- furz alle außerdeutsche Indogermanen Europa's
vererbt
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nun, wir
Man wirft uns Sozialdemokraten vor, daß wir schlechte Patrioten sind und nichts auf die„ Gloire" unseres Vaterlandes geben. Diesen Vorwurf, ebenso albern wie die andern, welche man gegen uns zu schleudern pflegt, wollen wir auch in den folgenden Zeilen durch die That widerlegen, indem wir früher als irgend ein anderes populäres Blatt unsern Lesern von der neuesten, ungeahnten Vermehrung unserer vaterländischen Ehren Bericht abstatten. Wenn es sich schließlich zeigen sollte, daß Deutschlands ältester Ruhm ein demokratischer ist werden darum doch nicht schlechtere Patrioten heißen sollen? Zunächst drängt sich die Frage auf: Woher weiß man denn jetzt etwas von diesen lang vergessenen Dingen? Es ist das ermöglicht durch die Sprachwissenschaft, welche aus der Ver= gleichung der Sprachen auf deren Geschichte, aus dieser auf die Geschichte der Völker Schlüsse macht, die uns zwar nie über alte Könige, Kriege und Staatsverträge etwas aufbecken können, wohl aber über das eigentlich Wesentliche der Geschichte, über die Kultur alter Völker beim Anfang ihres selbstständigen Daseins, und über die Reihenfolge, nach der sich verschiedene Kulturzustände aus einander entwickelt haben; zuweilen wie im vorliegenden Falle auch über die Lokalität des Vorgangs. Die Anwen= bung solcher Forschung auf die europäischen Sprachen mit dem angegebenen Resultat ist gemacht von August Fick , nunmehr Professor in Göttingen , in seinem schon 1873 erschienenen Werke: Die ehemalige Spracheinheit der Indogermanen Europas", dem ein Wörterbuch der indogermanischen Grundsprache 1868 vorauf
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gegangen war.
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Die Methode bei diesen Untersuchungen ist folgende: Durch die Beobachtung der nachweisbaren gefeßmäßigen Umgestaltung der Laute in den Worten schriftlich firirter Sprachen, die sich durch eine Reihe von Jahrhunderten kontroliren lassen, verglichen mit der Beobachtung der physiologischen Sprechthätigkeit, ist man zur Kenntniß der Gesetze gelangt, nach denen sich überhaupt Worte mit der Zeit umgestalten können wenigstens im Munde der indogermanischen Menschheit. Mit Hülfe dieser Gesetze hat man dann die Herleitung aller indogermanischen Sprachen aus einer gemeinsamen Muttersprache erkannt, sowie mit ungefährer Genauigkeit den Wortschatz, den diese Muttersprache vor ihrer Auflösung besessen haben muß. Leitet z. B. eine indische Vokabel sich nach den Gesetzen der Lautentwicklung offenbar von derselben alten Wortform her, aus der auch eine deutsche Vokabel unter Einwirkung anderer physiologischer Momente nach denselben Gesetzen entstanden sein muß, so ist klar, daß die fragliche Wortform uns eine Vokabel der verschollenen Ursprache darstellt. Die Bedeutung läßt sich meist aus der Vergleichung der Bedeutungen der beiden abgeleiteten Vokabeln unter Anwendung sehr einfacher psychologischer Gesetze mit Sicherheit schließen. So bekommen wir die Begriffe zu kennen, mit denen das Denken des Urvolkes arbeitete, und diese zeigen uns deutlich den Kulturstand, der vor Es bleibt dabei die Gefahr, der Völkertrennung erreicht war. ein unvollständiges Bild zu gewinnen; denn da nur wenige alte Vokabeln sich in allen Tochtersprachen erhalten haben, die meisten in einigen verschollen sind, so liegt die Annahme nahe, daß manche sich nur in einer, wenn überhaupt, erhalten haben, und also feinen Schluß auf ihren alten Ursprung mehr zulassen. Die Gefahr, falsche Züge in das Bild zu bekommen, ist dagegen ziemlich ausgeschlossen, da eine täuschende Gleichbildung neuer Vokabeln in Schwestersprachen nur da kein wunderbarer, und also schwerlich wirklicher Zufall wäre, wo sie sich durch die Natur der gemeinsamen Grundsprache von selbst als Konsequenz aufdrängt. Vor solchen Fällen hütet sich aber ein vorsichtiger Philologe und wird durch solche Trugbilder schwerlich getäuscht. Ein Beispiel