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sich dem Gegenstande ihres Appetits viel sicherer und unbemerkter| Darwin   die sexuelle oder geschlechtliche Zuchtwahl nennt, nähern können, und ebenso werden die von ihnen verfolgten Thiere viel leichter entfliehen können, wenn sie sich in der Färbung möglichst wenig von ihrer Umgebung unterscheiden. Wenn also ursprünglich eine Thierart in allen Farben variirte, so werden diejenigen Individuen, deren Farbe am meisten derjenigen ihrer Umgebung glich, im Kampf um's Dasein am meisten begünstigt gewesen sein. Sie blieben unbemerkter, erhielten sich und pflanzten sich fort, während die anders gefärbten Individuen oder Spiel­arten ausstarben...."

,, Nicht minder interessant und lehrreich, als die gleichfarbige Zuchtwahl, ist diejenige Art der natürlichen Züchtung, welche

und welche besonders die Entstehung der sogenannten sekun­dären Sexualorgane( d. h. Geschlechtsorgane in zweiter Linie) erklärt..... Solche sekundäre Geschlechtsorgane kommen in großer Mannichfaltigkeit bei den Thieren vor. Sie wissen Alle, wie auffallend sich bei vielen Vögeln und Schmetterlingen die beiden Geschlechter durch Größe und Färbung unterscheiden. Meistens ist hier das Männchen das größere und schönere Ge­schlecht. Oft besitzt dasselbe besondere Zierrathen oder Waffen, wie z. B. der Sporn und Federkragen des Hahns, das Geweih der männlichen Hirsche und Rehe u. s. w. Alle diese Eigen­thümlichkeiten des einen Geschlechts haben mit der Fortpflanzung

EXA

Justus von Liebig.( Seite 360.)

selbst, welche durch die primären Sexualorgane', die eigent­lichen Geschlechtsorgane, vermittelt wird, unmittelbar nichts zu thun.

Die Entstehung dieser merkwürdigen, sekundären Sexual­organe erklärt nun Darwin   einfach durch die Auslese oder Selektion, welche bei der Fortpflanzung der Thiere geschieht. Bei den meisten Thieren ist die Zahl der Individuen beiderlei Ge­schlechts mehr oder weniger ungleich; entweder ist die Zahl der weiblichen oder die der männlichen Individuen größer, und wenn die Fortpflanzungszeit herannaht, findet in der Regel ein Kampf zwischen den betreffenden Nebenbuhlern um Erlangung der Thiere des andern Geschlechts statt. Es ist bekannt, mit welcher Kraft und Heftigkeit grade bei den höchsten, bei den Säugethieren und Vögeln, besonders bei den in Polygamie lebenden, dieser Kampf

gefochten wird. Bei den Hühnervögeln, wo auf einen Hahn zahlreiche Hennen kommen, findet zur Erlangung eines möglichst großen Harems ein lebhafter Kampf zwischen den mitbewerbenden Hähnen statt. Dasselbe gilt von vielen Wiederkäuern. Bei den Hirschen und Rehen z. B. entstehen zur Zeit der Fortpflanzung gefährliche Kämpfe zwischen den Männchen um den Besitz der Weibchen. Der sekundäre Sexualcharakter', welcher hier die Männchen auszeichnet, das Geweih der Hirsche und Rehe, das den Weibchen fehlt, ist nach Darwin   die Folge jenes Kampfes. Hier ist also nicht, wie beim Kampf um die individuelle Eri­ſtenz, die Selbſterhaltung, sondern die Erhaltung der Art, die Fortpflanzung das Motiv und die bestimmende Ursache des Kampfes."

( Fortsegung folgt.)