obschon Beide, wie ich nachher von dem Direktor hörte, das achtzigste Jahr schon Uberschritten hatten. Neben dem verschlossenen großen Gitterthore befand sich ein kleines Thor, dessen Flügel nur angelehnt war. Ich trat ein und befand mich in dem Blumenhofe des Landhauses. Aus der kleinen Conciergeloge, welche sich zur Rechten des Thors befand, starrte mir der Concierge entgegen. Der Concierge war auch schon den Sicbzigeu nahe, übrigens eine rüstige, magere Gestalt von kaum Mittelgröße, mit intelligenten Gesichtszügen, mit dunkelschwarzeu Augen und weißem Haar. Im Hause Boulard's war Alles alt, nur der Direktor, seine Frau und ein großer Hund von Neu- fundländer Rasse nicht, der uns bellend in großen Sätzen über Blumenbeete und Rasenplätze entgegensprang.„Seien Sie un- besorgt, mein Herr," sagte der Concierge,„Tom ist sehr gut; er bellt nur, beißt aber nicht; er ist noch sehr jung. Sie wollten wohl unser Haus sehen?" „So ist es! Ich habe eine Karte vom Seinepräfekten." „Ich werde Sie sogleich dem Herrn Direktor melden, mein Herr." Der Concierge war ein alter Soldat und als solcher an militärische Disziplin und Unterwürfigkeit gewöhnt. Er stand, immer seine Militärmütze in der Hand.„Mann," sagte ich, „erst setzen Sie die Mütze auf; ich liebe eS nicht, wenn ein Mensch mit abgezogener Mütze vor mir steht." Währenddem beschäftigte ich mich mit Tom, die Aechtheit seiner Rasse prüfend. Er hatte sehr schöne zutrauliche Augen und trug ein aus Messing bestehendes Halsband um den dicken, zottigen Hals. Das Hals- band hatte, wie ich sah, eine Inschrist.„Was steht denn dort auf dem Halsband?" fragte ich den Concierge. Der Concierge strich das dicke, schwarze Haar des mächtigen ThiereS zurück, und nun las ich:„lle m'appeUe Tom et z'upxartieus la mai80ll de St. Michel ä St. Mand6."(Ich heiße Tom und gehöre dem Hause des heiligen Michael zu St. Maudö.) „Sehen Sie, mein Herr," sagte der Concierge mit schlauem Lächeln,„so geht uns Tom nie verloren!" „Gewiß nicht— wenn Tom ehrlichen Leuten in die Hände fällt. Aber nun führen Sie mich zu dem Herrn Direktor; sonst finde ich Ihre sämmtlichen Pensionäre im Bett. ES wird dunkel." Der Concierge hatte seine Mütze bei meiner Anrede schon wieder in der Hand. „Freund, setzen Sie die Mütze auf! Ich liebe die militärische Unterthänigkeit gar nicht. Endlich war die Mütze wieder auf dem Kopfe und wir schritten in Begleitung Tom'S, der uns in wilden Sätzen bellend umsprang, dem Hause zu. Der Concierge zählte mir alle Acmter auf, die er im Hause des heiligen Michael bekleidete— es waren wenigstens sieben, weltliche und geistliche; er war auch Sakristan und Bureaudiener, Heizer und Kanzlift— und erzählte mir von den Pensionären des Hauses. Den vornehmsten hatte ich vor dem Gitterthor gesehen, den Mann im verschossenen rothen Sammetschlafrocke; er war ein ehemaliger„homme de lettres" — ein Gelehrter; besondern Respekt hatte mein Begleiter aber vor dem ältesten Pensionär deS Hauses; denn er war ehemals Soldat gewesen, noch in der Garde des Kaisers, wie mein Be- gleiter ehrfurchtsvoll erwähnte, und trug die Helena-Btedaille; ein dritter war ein ehemaliger Tapezierer. Er war gelähmt und befand sich immer im Bett. Bei jeder neuen Anrede meinerseits hatte der Plann wieder die Mütze in der Hand, die ich ihm immer erst wieder auf den Kopf setzte, bevor wir unfern Spazier- gang fortsetzten, während Tom bellte und dann mit einem Freuden- geheut auf einen behäbig ausschauenden Mann in den vierziger Iahren losstürzte, der mit einer ebenso behäbigen Frau unter der Säulenkolonnade des linken Seitenflügels deS Hauses zum heiligen Michael einherging und die Abendkühle genoß.„Der Herr Direktor!" sagte mein Begleiter mit den sieben Aemtern; die Mütze stog wieder vom Kopfe, und seit diesem Moment konnte ich sie, solange wir in Gesellschaft„deS Herrn Direktors" waren, dem ehemaligen Sergeanten und Mann mit den sieben Aemtern nicht wieder auf den Kopf bringen. Ich übergab ihm meine Karte und die Karte des Seinepräfekten und hieß ihn, vor mir her-
zugehen und mich dem Herrn Direktor zu mclden. Mit mili- tärischer Strammheit, immer die Mütze in der Hand, führte er meinen Auftrag aus. „Lassen Sie mich Sie selbst begleiten, mein Herr, und Ihnen unser Haus zeigen," sagte der Direktor, nachdem ich mich ihm und seiner Gemahlin vorgestellt und ihnen meinen Wunsch auS- gesprochen hatte, das Haus zum heiligen Michael zu sehen;„es zerstreut mich; ich bin Ihr bester Führer, und dann kann ich mit Ihnen von dem letzten Krieg und von den Zuständen in Deutsch - land sprechen. Ich weiß, Sie sind unser Feind nicht." In Begleitung des Mannes mit den sieben Aemtern und Tom's traten wir unsere Wanderung durch das gastliche ZufluchtS- haus des Pariser Arbeiters an. Das Erdgeschoß des ganzen HauseS war dem Blumenhofe zu von einer offenen Säulenkolonnade umgeben. AuS dem Säulengange schaute der Spaziergänger auf die Baumgruppen, auf die Rasenflächen und auf die BlumenparterreS des GartenS und athmete ihren Duft ein. Der Gründer dieses HauseS hatte dafür gesorgt, daß seine aklen Gäste während des schlechten WetterS nicht im Zimmer zu bleiben brauchten, sondern frische Luft und Blumenduft einathmen konnten; deshalb hatte er die Säulen- kolonnade angelegt. Auf dieselbe öffnet sich eine Reihe tief hinab- gehender Fenster des Mittelgebäudes. Ich blickte durch diese Fenster zuerst in einen etwas rokoko- artig drapirten Saal. An den Wänden befanden sich Bücher- schranke; über den Bücherschränken Bilder, Oelgemälde und Kupferstiche. Von der Decke hing ein Kronleuchter von alt- modischer Form. In der Mitte deS Saales stand ein langer, mit grünem Tuch bedeckter Tisch. Auf dem Tische lagen allerlei Bücher. Neben dem Tische standen Atlanten mit Bildermappcn. An dem Tische standen Rohrstühle, Rohrsessel und bequeme Arm- stühle, an den Wänden mehrere altmodische DivanS, die in ihrer Form und in ihrer Zierrath auch an den Geschmack des vorigen Jahrhunderts erinnerten. „Wozu verwenden Sie denn das Zimmer?" fragte ich, noch einen Blick durch die Fenster werfend, nicht ohne Verwunderung den Direktor. „Es ist das Lesezimmer und Unterhaltungszimmer für unsere Pensionäre." „Das Zimmer würde für jede« Kasino passen. Bequeme Sessel und DivanS. Gute Bilder. Die Bücherschränke sind voll Bücher?" „Herr Boulard hat es so eingerichtet. Alle Jahre werden die Bücher durch die Erscheinungen der Literatur vervollständigt, welche für den Gesichtskreis unserer Gäste von Interesse sind." Wir gingen den Säulengang weiter hinab. Durch andere bis zu dem Boden hinabreichcnde Fenster blickte ich in einen andern Saal. Er war geschmackvoll dekorirt. Eine Reihe Rohr- sessel und Lehnstühle stand an den Wänden entlang. Die Mitte des Saals nahm eine lange Tafel in Hufeisenform ein. Von der hinteren Wand, deren große Fenster nach dem Garten hin- ausgehen, schaute ein Oelgemälde in Lebensgröße, ein Kniestück, auf die Tafel herab. Es stellte einen Mann in mittlerem Lebens- alter, in der Tracht zu Anfang dieses Jahrhunderts dar, welcher aus seinen schönen dunkelbraunen Augen in den Saal auf die Tafel blickte. Das reiche, braune Haar verdeckte die Hälfte der Stirn. Die Gesichtszüge waren sehr sympathisch. „Wozu dient dieser Saal?" fragte ich meinen Begleiter. „Es ist unser Eßsaal! Die Tafel hat Herr Boulard so eingerichtet, daß die Gäste in gemüthlicher Weise einander sich gegenüber sitzen können." „Und wen stellt dies meisterhaft ausgeführte Bild dar?" „Den Gründer dieses HauseS. Herr Boulard schenkte es dem Hause am Einweihungstage. Es war am 25. Januar 1832. Er ließ das Bild der Tafel gegenüber an der Wand aushängen und sagte: ,So werde ich, auch wenn ich gestorben sein werve, noch viele, viele Jahre in den fröhlichsten Stunde« deS Tages unter meinen Gästen leben.'" „Ein schöner Gedanke. Und wird gut in dem Hause des Pariser Arbeiters gespeist, mein Herr?"