meiste Zeit Delescluze und Rochefort. Sie redigirten im ,, Pavillon der freien Presse" ihre Zeitungen weiter, um, nachdem sie den Pavillon verlassen hatten, nach einigen Wochen oder Monaten ihre verlassenen Zimmer von neuem zu beziehen. Aber der Aufenthalt im ,, Pavillon der freien Presse" war zu ertragen. Wenn ich Delescluze bedauerte, daß er wieder auf einen mehrmonat lichen dortigen Aufenthalt zu rechnen habe, lachte er und sagte: ,, Oh, das ist schon auszuhalten! In Cayenne war es weit schlechter!"
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Als ich jetzt das alte Revolutionsgefängniß St. Pelagie außer der Conciergerie das einzige Gefängniß aus der Revolutionszeit, welches der Umbau von Paris übrig gelassen hatbesuchte, und der Brigadier, der mich umherführte, mir jeden interessanten Winkel desselben gezeigt hatte, ersuchte ich ihn, mich nach dem ,, Pavillon der freien Preffe" zu führen, von dem so oft vor sechs Jahren während meines letzten Pariser Aufenthalts die Rede gewesen war. Ich hatte ihn noch niemals besucht. Heute zogen mich die Erinnerungen an die Freunde dorthin, von denen ich feinen einzigen in Paris wiedergefunden hatte.
Der Brigadier führte mich in einen weiten, ziemlich freundlich ausschauenden Hof, in deffen Mitte sich ein zweistöckiges, modernes Gebäude im Baustyl der dreißiger Jahre erhebt. Eine breite Freitreppe führte in das Erdgeschoß des Hauses. Es hatte einen bürgerlichen Anstrich. In seinem Aeußern erinnerte es in nichts an ein Gefängniß. Das ist der Pavillon der freien Presse', den Sie zu sehen wünschten, mein Herr!"
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,, Wohlan, Brigadier, zeigen Sie mir die Einrichtung! Nach einem Gefängniß sieht das Haus nicht aus. Nicht einmal Gitter vor den Fenstern!"
,, Es hat auch im Innern nichts Gefängnißartiges. Also, wenn es Ihnen gefällig ist, mein Herr!"
Wir stiegen die Freitreppe hinauf. Das Erdgeschoß war zu Bureauzimmern und zu Beamtenwohnungen eingerichtet. Die Gefangenen haben immer die Räume im erfien und zweiten Stock bewohnt," sagte der Brigadier.
Die Korridore, die Flure, die Treppen waren auch im ersten und zweiten Stock licht, hoch und geräumig, wie im Erdgeschoß des Hauses. Die Zimmer waren groß und licht; manche hatten zwei, manche drei Fenster, welche nach dem Hofe hinausgingen. Mit jedem Zimmer war noch ein zweiter Raum verbunden, der zur Garderobe und zum Schlafgemach bestimmt war. Die Wände waren theils mit Delfarbe gestrichen, theils mit Tapeten bedeckt; die Fußböden gedielt. Die Zimmer hatten, obschon sie nicht möblirt waren, einen gemüthlichen Anstrich.
Mein Begleiter führte mich durch eine ganze Reihe von Zimmern. Jedes Zimmer glich so ziemlich dem andern. Er zeigte mir das Zimmer, welches Rochefort, und das Zimmer, welches Delescluze bei ihrer häufigen Anwesenheit im„ Pavillon der freien Presse" zu bewohnen pflegten, dann führte er mich in das Zimmer Vermorel's, der ihm besonders sympathisch gewesen war. Er war schon seit fünfzehn Jahren als Brigadier in St. Pelagie angestellt, hatte also eine ganze Reihe von Preßverbrechern gekannt. Mit großer Achtung sprach er von Delescluze. ,, Seine alte Mutter besuchte ihren Sohn täglich," sagte er. ,, Wissen Sie nicht, mein Herr, ob sie noch lebt? Die alte Frau muß in den achtziger Jahren sein."
„ Sie lebt noch. Ich habe sie aber noch nicht auffinden können. Auch Flourens' Mutter lebt noch."
Für Flourens' ritterliches und ideales Wesen hatte der Brigadier eine ganz besondere Sympathie empfunden. Er konnte nicht aufhören, von ihm zu sprechen. Flourens war noch in den zwanziger Jahren, als er starb, hoch und schlank gewachsen, blond, eine schöne, edle Erscheinung, gleich tapfer mit der Feder und mit dem Degen. Als Professor der Sorbonne hatte er nur eine Vorlesung gehalten. Die weiteren Vorlesungen sistirte die Polizei, und dann erfolgte seine Absetzung.
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,, Sind niemals, Preßverbrecher aus dem Pavillon der freien Presse entflohen, Brigadier?" fragte ich.
,, Einmal, alle, zur Zeit Louis Philippe's, natürlich mit Hülfe eines Beamten, der sie bei Nacht aus dem Thore, durch welches
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Sie eingetreten sind, in's Freie führte. Der Direktor, als er am andern Morgen die Flucht sämmtlicher Gefangenen erfuhr, eilte ganz bestürzt zu dem Polizeipräfekten, um ihm das Unglück Der Polizeipräfeft zu melden. Es war am 12. Juli 1835. lachte und sagte: Necht gut! Wenn die Republikaner entflohen sind, hat's mit der Republik ein Ende.""
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Wir waren mit der Besichtigung aller Zimmer, die mich interessiren konnten, zu Ende. Ich erinnerte mich, daß Delescluze, wenn ich ihn bedauerte, wieder so und so viele Wochen und Monate im Pavillon der freien Presse" zugebracht zu haben, mir stets mit lächelnder Resignation erwidert hatte: ,, Es lebt sich dort schön. In Cayenne war's viel schlechter," und fragte nun meinen Begleiter nach der Behandlung der Preßverbrecher im Pavillon.
,, So viel ich weiß, war die Behandlung immer dieselbe," erwiderte er, seitdem das Haus erbaut!" ,, Nun; und welche?"
,, Jeder der Herren thut und treibt in diesem Hause, sowie in seinem Zimmer, was er will. Die Zimmer werden auch bei der Nacht nicht verschlossen. Auch ist jedem Gefangenen die Bewegung in den Höfen bis Abends sieben Uhr gestattet. Nur die gewölbte Eingangspforte, durch welche Sie eingetreten sind, darf er nicht überschreiten."
,, Und wie und was darf der Gefangene speisen?"
Der Brigadier sah mich ganz erstaunt an. Nun," sagte er, ,, für sein Geld, was er will. Er kann sich Diners und Dejeuners zu jedem beliebigen Preise von jedem Pariser Restaurant serviren lassen. Er kann Bordeaux und Champagner trinken, Laffitte und Chablis. In Allem ist er unbeschränkt."
,, Muß er zu einer bestimmten Zeit sich niederlegen und das Licht auslöschen?"
Der Brigadier sah mich noch erstaunter an, als da ich nach der Küche gefragt.
,, Mein Gott," sagte er, falls es ihm Vergnügen macht, kann er die ganze Nacht studiren und lesen."
,, Und wie ist's mit den Briefen, die er absendet oder die er erhält? Werden dieselben gelesen."
,, Von dem Gefangenen, falls er sie lesen will, sonst von Niemandem."
,, Und wie ist's mit dem Besuch? Kann der Gefangene jeden Besuch empfangen, den er will?" Jeden."
,, Auch Damen?"
Der Brigadier lächelte. Nun, natürlich, soviel er will." ,, In seinem eigenen Zimmer oder in einem besondern Zimmer?"
In seinem eigenen Zimmer. Natürlich! Er kann auch Diners und Soupers geben und sich soviel Gäste einladen, wie ihm gefällig ist. Es sind hier vielmal vergnügte Diners und Soupers gegeben worden."
,, Sagen Sie einmal, Brigadier, könnte der Gefangene auch einen Ball geben?"
,, Es ist noch nicht vorgekommen, mein Herr; aber ich zweifle gar nicht daran. Aber bei allen Gesellschaften, Soupers, Besuchen ist eine Bedingung"
,, Nun, welche? Werden die Besuche kontrolirt?"
„ Gott bewahre! Die einzige Bedingung ist die, daß um sieben Uhr Abends alle Besuche das Haus verlassen müssen. Also," fügte er lächelnd hinzu ,,, müßten auch die Bälle um sieben Uhr zu Ende sein."
,, War es auch so während des Kaiserreichs?" ,, Niemals anders."
Jetzt begriff ich, wenn Delescluze sagte:„ Es ist auszuhalten im, Pavillon der freien Presse. In Cayenne war's viel schlechter." Seine alte Mutter, welche ihren Sohn, der ihr schon so viele Schmerzen verursacht hatte, zärtlich liebte, war aber nicht der Ansicht, daß der Aufenthalt im, Pavillon der freien Presse nicht viel zu bedeuten habe. War er doch gleichbedeutend mit einer Trennung von dem geliebten Sohne, den sie eine so lange Reihe von Jahren während seiner Verbannung in England und während seiner schrecklichen Gefangenschaft in Cayenne entbehrt hatte. Jeder