Nur zögernd willigte Johannes ein; er war schwer aus seinem trägen Dahinbrüten zu erwecken, er schien für nichts mehr Interesse zu haben.
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Endlich befanden sich die Beiden auf der Reise, ob sie wohl etwas frommte?--
Es gibt für unglückliche, vom Elend niedergebrückte Menschen fein besseres Heilmittel, als wenn etwas wieder ihr ganzes Interesse in Anspruch zu nehmen vermag.
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Aber wo in aller Welt, wird man fragen, sollte in dem Städtchen, welches das Reiseziel der Freunde gewesen, der Gegenstand sein, der alle Gedanken Johannes' von dem Vergangenen abziehen und nur allein auf sich lenken konnte?-
O, dieser Gegenstand, wenn man von einem solchen reden darf, war schon lange vorhanden; es bedurfte eben grade der kleinen Stadt, um ihn dem unglücklichen Johannes recht zum Bewußtsein zu bringen.-
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Es ist ein eigenes Leben in manchen kleinen Städten. Man beschränkt sich daselbst meist auf die Beobachtung der allergewöhnlichsten und geringfügigsten Dinge. Die Philister rauchen ihren Tabak und lassen es sich sehr angelegen sein, die„ Prise" zu prüfen, welche Gevatter Kunz aus seiner Dose präsentirt. Der Stat" bildet ein Hauptthema der Kneipenunterhaltung, und wenn Nachbar Hinz einmal einen besonders bemerkenswerthen " Grand" oder„ Solo" gespielt hat, so kann man noch ein halbes Jahr später davon erzählen hören. Neben diesem erfordert es natürlich noch ein außerordentliches Augenmert, ob dieser oder jener Krämer gute Häringe verkauft, ob der Bauer Klaus mit seinem neuen Fuchs" ein gutes Geschäft gemacht hat, und ob es sich ziemt, daß der Bürgermeister hohe Reitstiefeln trägt. Ferner ist es höchst wichtig, zu entscheiden, ob der Student Winkelmeyer, als ein Mensch ,,, der Schule genossen hat," sich unterstehen darf, die hübsche Olga Wangersdorf, seine Jugendfreundin, nach Hause zu begleiten.
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Für diejenigen Leute, welche in ihrem Leben noch nicht aus ben engen Straßen des Vaterstädtchens oder über die nächste Dorfschenke hinausgekommen sind, oder die, falls sie auf der ,, Wanderschaft" gewesen, doch, zurückgekehrt, bald wieder ganz im Spießbürgerthum aufgegangen sind, für diese Leute hat alles Aeußerliche das meiste Interesse, und in ihrer unglaublichen Kurzsichtigkeit lassen sie nicht selten ihr Urtheil nur durch dieses beeinflussen. So stecken sich zum Beispiel alle Köpfe zum Fenster heraus, wenn der Werkmeister Stelzhohn am Sonntag im Cylinderhut zum Frühschoppen geht, und die ganze Stadt ist für viele Monate mit Unterhaltungsstoff versehen, wenn ,, der neue Doktor" eine halbwegs ,, reiche Frau" heirathet. Diejenigen, welche sich stolz von den gewöhnlichen" Menschen abwenden und grade dadurch einen so geringen Beweis von wahrhafter Bildung geben, werden in ihrem lächerlichen Dünkel, der in der Regel mit einer mehr als wünschenswerthen Dosis von Dummheit gepaart ist, noch bestärkt, wenn man demüthig den Hut vor ihnen zieht und sie mit allen ihren mehr oder minder respektabeln Titeln in größerer oder geringerer Heuchelei anredet. Aus demselben Grunde darf irgendein herzugelaufener Dummkopf oder Schwindelfritz" seinen eleganten Ueberrod noch einmal so vornehm nachlässig über die Schultern werfen und den ,, Pince- nez"( Klemmer") auf die Nase setzen, wenn er stolzen Schrittes durch die Straßen geht: er ist ein Fremder, er muß etwas ganz Besonderes sein, und nicht nur alle Waschweiber kommen sammt dem Barbier nicht eher zur Ruhe, bis sie die ganze Lebensgeschichte des Fremden auswendig wissen, auch alle anderen spießbürgerlichen Gehirnmaschinen arbeiten mit verstärkten Kräften. Die Mädchen des Städtchens aber hat der Ankömmling von vornherein alle auf seiner Seite.
Bist du aber zufällig in einem solchen Städtchen geboren, dann kannst du merken, wie wahr das Wort ist, daß kein Prophet etwas gilt in seinem Vaterlande. Wärest du weise wie Solon und anspruchslos wie Sokrates : du wirst immer bemerken können, wie deine Landsleute dich mit einer gewissen Geringschäßung behandeln, zumal du ja dann das Gebahren um dich her höchst lächerlich, wenn nicht bemitleidenswerth finden mußt. Wenn du freilich den geistreichen Meinungen der ehrfamen Philister nie
etwas entgegenstellſt, wenn du diesem oder jenem aufgeblasenen Strohmann alle möglichen Hochachtungsbeweise gibst: ja, dann ist es etwas Anderes, etwas ganz Anderes!
Er besaß so tiefe und gründliche Kenntnisse, er hatte schon so viele Erfahrungen gesammelt, seine Gedanken nahmen den erhabensten Flug, und sein geistiger Horizont war der des am höchsten gebildeten Menschen nach seinem Tode prangte vielleicht sein Name in Erz und Marmor; aber warum blickte nicht das ganze Städtchen voll Hochachtung auf seinen Sohn, auf Sigismund Hagen?
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So fragte sich Johannes sogleich nach dem ersten Abend, den er in der kleinen Stadt verlebt.
Aber warum sollte man mit einem Gefühl des Stolzes auf Den sehen, der vielleicht der Einzige war, um dessenwillen man seine Vaterstadt einst in weiteren Kreisen nennen würde?
Sigismund Hagen war ja nur der Sohn des Maurers Berthold Hagen, so dachte der sogenannte vornehme Theil der Bewohner des Städtchens, und dieser Berthold Hagen ist eigentlich ein sehr dummer und unvorsichtiger Mann gewesen, meinten die Philister par excellence, daß er fast sein ganzes Vermögen allein an den jungen Sigismund wendete, indem er ihn auf das Gymnasium und die Hochschule sandte. Sigismund galt in der Meinung der Spießbürger für einen unbescheidenen Sohn, ter auf Kosten seiner Geschwister in großen Städten ein vornehmes Leben führte. Die Pflicht liebender und verständnißvoller Eltern, für einen solchen Sohn alles, was nur in ihren Kräften steht, zu opfern, das begriffen diese beschränkten Leute nicht, das kann überhaupt der knappe Verstand eines Philisters nicht begreifen, und Frizz Schwarzmichel, der ein tüchtrger Schulmeister geworden und in gezierter Sprache sein bischen Wissen, gemischt mit einer milden Sauce frommer Gottesfurcht, den staunenden Spießbürgern aufzutischen weiß, steht in ihren Augen viel höher, als ein genialer Mensch, wie Sigismund Hagen es war.-
Ja, eben dieses Geniale war es, woran man Anstoß nahm; denn was für ein gefährlicher Mensch ist Sigismund Hagen, der Sohn des Maurers!
Denkt euch, er will es gar nicht in der Ordnung finden, daß Schlag zwölf Uhr mittags oder abends nach vollbrachtem Tagewerke ein ganzes Heer abgezehrter Gestalten mit bleichen Gesichtern in zerlumpten Gewändern, blecherne Krüge, in welchen der sogenannte Kaffee zum Frühstück oder Besper gewesen, tragend, aus dem großen Fabrikgebäude nach ärmlichen Wohnungen zurückkehrt, während der Fabrikherr in rasch rollendem Kutschwagen durch die Straßen fährt und Wein trinkt, zu seinem Vergnügen die ganze Jagd der Umgegend pachtet und seine kleinen Buben zu Adjutanten seiner Feuerwehr ernennt, gleichwie ein Kaiser oder ein König den kleinen Prinzen- Ihren Hoheiten, Allerhöchstdenselben!- militärischen Rang verleiht.
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Und nun vollends die religiösen Ansichten Sigismund's! Er war in Bezug auf diese in der Meinung der Leute der reine Kezer. Freilich, er gehörte nicht zu Denen, die den Namen Gottes fortwährend im Munde führen und dabei nichts weniger als christlich" sind, nicht zu Denen, die jeden Sonntag der tonfusen Predigt des Pastors zuhören und eine alte, gichtkranke Schachtel wie eine Louise Lateau verehren,*) die über jeder ihrer Thüren einen frommen Spruch stehen haben, aber trotz alledem recht wacker fluchen und im Leuteverleumden alles Mögliche leisten; er war ein ehrliches Herz und besaß Muth genug, den ganzen alten Humbug, der bisher in der Welt mehr Schlechtes als Gutes geschaffen, und den er nun einmal nicht zu billigen vermochte, mit klarem Verstande abzuschwören.
Die Leute meinten natürlich, er sei ein Sozialdemokrat, eine Bezeichnung, auf welche Sigismund nicht wenig stolz war. Er bekannte sich ja auch täglich mehr zu dieser Richtung, umſomehr, da er mit eigenen Augen und Ohren wahrgenommen, wie
*) Diese Worte beruhen auf einer persönlichen Reminiscenz des Stadt, woselbst vor kurzem einige fromme( 1) Männer auch die KirchenVerfassers, indem er sich erinnert, daß dies in einer kleinen sächsischen buße" wieder einzuführen gedachten, wirklich der Fall ist, unglaublich, aber wahr!
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