politische Erziehung eines modernen Deutschen, wird meine obige Behauptung illustriren. Ich denke mir einen geistig und körperlich normal begabten Knaben, dessen Eltern keinerlei politischer, reli­giöser oder sozialer Koterie angehören. Er tritt also frei von allen hervorragenden guten und schlimmen Vorurtheilen in eine moderne deutsche Schule ein, in eine der vielen Anstalten nach preußischem Muster. Man sollte denken, es müsse der Haupt­zweck der Schule sein, den jungen unverdorbenen Geist in leben­digster Weise mit den Wissenschaften bekannt, ihm das Lernen nicht zu einer Qual, sondern zu einem Vergnügen zu machen, und sicher geht auch der kleinste, unwissendste Junge mit dem dumpfen Wunschgefühl in die Klasse, daß sich ihm nun eine neue Welt des Erhabenen und Schönen neben dem Nützlichen erschließen werde. Aber weit gefehlt: die neue Welt präsentirt sich ihm in der nüchternsten und langweiligsten Weise. Da gibt es zuerst harte Holzbänke, kahle, viereckige falfweiße Zimmer. An den Wänden hängen seltsame Papiertafeln, auf welchen eine Menge Zahlen gedruckt sind oder komisch karrikirte und beklerte Umrisse. Man sagt ihm, das seien Landkarten und so sähen die Länder unserer Erde aus. Vielleicht steht auch hinter dem Ofen irgendwo ein verstaubter ausgestopfter Vogel, dessen Glasaugen gespensterhaft und gelangweilt immer auf denselben Fleck schauen. Nirgendswo findet der Schüler in seiner Klasse auch nur das geringste Objekt angenehmen, geschweige denn künstlerischen Wohlgefallens. Er sieht sich seine Mitschüler an, die fast alle ebenso eingeschüchtert und trübe dasitzen, wie er. Nun präsentiren sich im Laufe des Tages einige Lehrer. Einige sind freundlich, andere sind mürrisch, einige sind dick, andere mager, einige niesen stark und andere tragen Brillen, aber alle haben, sobald sie in die Klasse eintreten, einen Ausdruck im Gesicht, der den modernen Lehrern stereotyp ist, und erst dann von dem Schüler ganz verstanden wird, wenn er einige Wochen hindurch von jedem Lehrer täglich die Ermahnung gehört hat: Thue deine Pflicht, mein Junge. Sei fleißig, lerne was dir aufgegeben wird, und du wirst ein guter Mensch werden!"

,, Der junge Schüler findet gewiß an diesen fortwährenden wichtigthuenden Ermahnungen, an dem ewigen Auswendiglernen und Reproduziren des Gesagten keine große Freude, auch amüsirt ihn die abgemessen einherschreitende Lehrergestalt durchaus nicht, doch er will ein guter Mensch werden, darum lernt er darauf los, ohne zu wissen, warum und weshalb. Vorläufig lernt der Junge nun gehorsam sein. Gehorsamkeit ist bei Knaben gewiß eine Tugend, aber gehorchen und gut decken sich doch keineswegs. Doch was weiß der Schüler davon, er ist gehorsam und fühlt sich deshalb als guter Mensch, und in diesem Glauben macht er fast die ganze Schule durch, und wird vielleicht sein ganzes Leben hindurch gehorsam bleiben, d. h. er wird sich dort, wo es ihm schadet, nicht auflehnen gegen Geseze, Verhältnisse, Personen, Beamte, Regierende. Die eingeimpfte Passivität wird die Atti­vität seines Geistes, wenn nicht ganz, so doch zum großen Theile lähmen. Er und Seinesgleichen sind gewiß gute Unterthanen. ,, Aber nicht allein die strenge Korporalsdisziplin, sondern auch die Art und Weise des Unterrichts ist darauf angelegt, gute Unterthanen zu erziehen. Schon oft und von den verschiedensten Seiten ist darauf hingewiesen worden, daß wahre Bildung nicht dadurch erzielt werde, daß das Gedächtniß sich mit einer Unmasse todter Kenntnisse und Fakten belade. Dies scheint aber der Haupt­zweck der modernen Schulen zu sein, die strengen Examinatoren verlangen wenigstens in Preußen kaum mehr als die fabelhafteste Gedächtnißkrämerei. Sehr begreiflich! Nichts erfordert bei ge­wöhnlichen Menschen mehr Zeit und Arbeit als das Auswendig­lernen. Und wenn der Schüler bis zur Ablegung des Examens, welches häufig erst in den zwanziger Jahren stattfindet, fortwährend diese Arbeit verrichtet, so hat er keine Zeit, über die höchsten Zwecke des Menschenlebens und seiner eignen Bestimmung nach zudenken.

" Zwei Lehrdisziplinen sind es besonders, die das Leztgenannte befördern könnten: es sind Geschichte und Literatur. Eine wahr heitsgetreue, unparteiische Geschichtslehre, wirksame Beweisführung des Schiller 'schen Sages:, die Weltgeschichte ist das Weltgericht, würde die Schüler ohne Zweifel zum Nachdenken über ihre eigne

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Stellung als Mitlebende anspornen, und dieses würde im späteren Leben die besten Früchte tragen. Statt dessen aber findet eine trockne Aufzählung von Daten und Namen statt. Hie und da hängt der Lehrer, nach Angabe des von Regierungswegen privi­legirten Lehrbuchs einzelnen Namen Etiketten um, auf denen ge= schrieben steht: berühmt', groß, Tyrann' ,, Demagog ' Man sagt z. B.: Moses ist ein großer Mann, Luther ein epochemachender Charakter, Napoleon ein, unmoralisches Genie'. Preußische Schulmeister lieben es, mit kritischen Adjektiven um sich zu werfen, ohne dieselben aus dem Zusammenhang der Ge­schichte und einer reinen natürlichen Moral zu erklären. Nun kommt hinzu, daß unter Geschichtskenntniß, die verlangt wird, aber nur ein Auswendiglernen der Daten und Namen, sowie ge­wisser kritischer eingelernter Schlagwörter verlangt wird. letzteren sind oft die schlimmsten Ingredienzen, weil sie den schönsten und verlockendsten Klang haben. Die herrlichen Worte, patriotisch', national ,, liberal' c. werden oft Dingen und Menschen an­gehängt, die dieses Lob vor dem Richterstuhl kosmopolitischer Moral und internationaler Menschenliebe gewiß nicht verdienen. Ich erwähne hier nur als einzelnes Beispiel den, patriotischen' Bruderkrieg von 1866. Es ist eben weder die Moral noch die Menschenliebe, welche in unsern Schulen den todten und leben­digen Personen in der Geschichte gute oder schlechte Zeugnisse ertheilt, sondern ein von oben her irregeleiteter, einseitiger, egoisti­scher Spießbürgerpatriotismus, welcher nur das für gut anerkennen kann, was das gemüthliche Nebeneinanderleben einzelner egoistischer Individuen behütet und befördert. Wer mit gewaltigem Ideen= schwunge und thatkräftiger Energie dem alten Schlendrian politischen Lebens und Strebens in der großen Menge entgegentritt, wer erhabene Ideen verwirklichen will, der findet vor diesem Richterstuhl keine Gnade, sondern Verdammniß. Davon wissen die sozialen Reformer aller Jahrhunderte zu erzählen.

,, Noch unfruchtbarer und ebenso verderblich sind die Literatur­stunden. Wir Deutschen nennen uns so gerne ein Volk von Dichtern und Denkern, und gewiß haben wir mehr als andere Völker gedacht und im Geiste um die Erkenntniß der Wahrheit gerungen. Es ist ein stolzes Wort: wir. Leider aber begreift dieses, wir nicht die Gesammtheit des Volks in sich, sondern nur eine größere Anzahl großer Männer, die nur halbverstanden worden sind und nächstens gar nicht mehr verstanden sein werden, wenn in den Schulen der äußerst mangelhafte und schablonäre Literaturunterricht nicht gebessert wird.

,, Es ist gewiß zweckentsprechend, daß in den untern Klassen die Grammatik der deutschen Sprache gründlich und eingehend gelehrt wird, unrecht aber scheint es mir zu sein, daß man in den Lesestunden nicht schon eine auf die Klassiker vorbereitende Lektüre vornimmt. Diese Lesebücher für die untern und Mittel­klassen sind ihrer großen Mehrzahl nach Sammlungen breitge tretener moralischer Anekdoten von guten und bösen Kindern, welche das wenige Gute, was darin vorkommt, oft ganz schief und falsch auffassen, da sie selbst noch kein eignes moralisches Unterscheidungsvermögen haben, sondern angelerntes Gehorsams­und Pflichtgefühl für gut schlechtweg nehmen. In Tertia over Sekunda beginnt dann der mit ganz wenigen wöchentlichen Stunden bedachte eigentliche Literaturunterricht. Auch hier ist meistens das Auswendiglernen der Daten und Fakten nebst zugehörigen Prädikaten die Hauptsache; doch abgesehen davon: diese plößliche, ohne alle Einleitung eintretende, Einführung in die Welt der höheren und poetischen Literatur konsternirt und verwirrt die bis dahin mit moralischen Anekdoten aufgefütterten Schüler so sehr, daß die wenigsten einen Begriff, eine Ahnung von der Bedeutung eines großen Mannes und von dessen Werken erhalten. Ich bin z. B. sicher, daß Goethe selbst von Primanern in Gymnasien selten auch in seinen verständnißvollsten Dichtungen begriffen wird, einfach deshalb, weil die Goethe'schen Dichtungen scheinbar gar nicht mit der in der Schule so hoch gehaltenen und gepriesenen Moral und Pedanterie übereinstimmen. Die Lehrer selbst haben einen schweren Stand. Nicht nur ihr Wort soll belehren und ermuntern, sondern auch ihr Benehmen, ihre Ausdrucksweise, mit einem Worte ihre Persönlichkeit. Es ist eine feststehende That­