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Theater in Berlin kann sich z. B. nur durch die schrecklichsten Blödsinnigkeitspossen, das Viktoriatheater nur durch augenblendende und sinnekitzelnde Ausstattungsstücke in der Gunst des vielköpfigen Tyrannen erhalten. Wenn die Sachen so liegen, kann man dann von jenen Theaterdirektoren, deren Wohl und Wehe einzig von dem Ertrage der Billetkasse abhängt, verlangen, daß sie dem Strome entgegenarbeiten, daß sie moralische Ermahnungen pre� digen, daß sie unerbittlich diejenigen frivolen und leichtfertigen Stücke, welche allein Leben in's Haus bringen, von dem Reper- toire fernhalten? So erstaunlich eS klingt, es hat noch vor einigen Jahren, damals, als auch die Theater von der Gewerbefreiheit profitirten, solche Direktoren gegeben, die es versucht haben. Wahrer und tief- gefühlter Dank sei diesen Herren noch nachträglich gesagt, sie haben gezeigt, daß auch in vielverrufenen Schauspielerkreisen noch Sinn für wahre Kunst herrscht. Diese Unternehmungen glückten aber allesammt nicht und scheiterten an dem Jndifserentismus der Menge. Ein Beispiel für alle haben wir in Heinrich Laube , dem Direktor des Stadltheaters in Wien . Er wollte gewiß mit gutem Willen ein gutes deutsches Theater schaffen, und was ist jetzt aus demselben geworden? Eine Bühne, auf welcher allerdings von befähigten Schauspielern gut gespielt wird, aber nur in französischen Ehebruchsdramen und Possen. Ein Theatcrdirektor, der reüssiren oder, deutlicher ausgedrückt, der nicht innerhalb eine? Vierteljahres bankerott werden will, kann in dieser Zeit nur einen Weg einschlagen, er muß auf den Effekt arbeiten. Und dieser Effekt wird bei dem jetzigen Publikum nicht durch besonders künstlerisches Spiel hervorgebracht. In der.'Auswahl seiner Stücke hat er darauf zu achten, daß sie weder einen Gardelieutenant, noch einen sich zerstreuen wollenden Philosophieprofessor, noch einen Schusterbuben langweilen. Wahr- lich, das ist eine schwere Aufgabe. Ich glaube, selbst Shakespeare bringt es nicht fertig, einen schnauzbärtigen preußischen Oberst zu amüsiren, wie viel weniger ein Theaterdirektor mit guten Stücken. Da muß er eben zu solchen Stücken greifen, die sich nicht auf die Bildung und das Kunstinleress- deS Publikums stützen, sondern auf jene Begierden und heimlichen Wünsche, so- wie auf die Zerstreuungslust, welche jedem Einzelnen, sei er König oder Bauer, als Menschen angehören. Er muß von dem Grundsatz ausgehen, welchen ihm die Erfahrung an die Hand gegeben hat, daß nur ein ganz kleiner Theil aus wirklichem Kunstinteresse sein Haus besucht, daß ein etwas größerer sich aus Mode der Autorität des ersteren wohl fügt, daß aber der bei weitem größte Theil, derjenige, welcher die Kasse füllen soll, das Theater besucht, um sich von den überhandnehmenden Sorgen und dem Elend in diesem schönen neuen deutschen Reich zu er- holen, möglichst auf leichte Weise, ohne viel Anstrengungen des Geistes. Was kann nun ein Direktor diesem Publikum bieten?

.Augenlust, Fleischeslust und ein hoffärtiges Leben'! Possen, Operetten mit nackten Beinen und Brüsten, Ehebruchsdramen mit höhnender Unmoral(.Wenn man's auch verdammt, sehen und hören thut man's doch gern,' sagte mir einmal ein ,ehr- samer Bürger), Ausstattungsstücke mit bengalischer Beleuchtung, und Thierschauspiele(siehe d. Elephanten in der.Tour du monde'), Rührstücke, in denen eine Klatschbasenmoral herrscht, welche aber die Thränendrüsen in Bewegung setzt(es gibt so viele Menschen, die auS purem Vergnügen, des kitzelnden Reizes wegen, weinen), patriotische Stücke, die einem Zauberspiegel gleichen: Gucken Schufte hinein, so spiegeln sich ehrliche Gesichter wieder. Ich brauche über den Verfall des deutschen Repertoire'« nichts weiter zu sagen, er ist allgemein anerkannt und bekannt. Grade in neuester Zeit wird wieder viel in Broschüren und Blättern über diesen Punkt geschrieben; Viele werfen sich als Aerzte auf, welche das Theaterwesen kuriren wollen durch Theater- schulen und Staatssubventionen. Das Publikum raisonnirt das Blaue vom Himmel weg, weil der Verfall einmal zu Tage liegt und Keiner an demselben selbst schuld sein will. Gebt euch keine Mühe, ihr klugen Reformatoren, ich sehe es euch am Gesichte an, ihr habt fast alle keinen Ernst; und wenn ihr ihn hättet, so fehlt cnch doch der Muth, der Grundursache des Uebels nach- zuspüren. Ja, ihr seid allesammt feige und bürdet einzelnen Leuten, den Theaterdirektoren, den Schauspielern, den Kritikern, ja dann und wann auch dem.Pöbel' die Schuld auf, weil ihr euch fürchtet, die große Entdeckung zu machen, daß nicht Etwas im deutschen Reiche faul ist, sondern fast Alles, besonders aber das freie Geistesleben, die unbefangene, naive Gefühlswelt. Statt dessen blüht ein brutaler Materialismus, der mit schönen liberalen Redensarten von der freien Wissenschaft, der ächten deutschen Kunst, dem erhabenen Patriotismus und der aufblühenden In- dustrie(o heiliger Reuleaux!) überdeckt wird. Was unserer Zeit vor allen anderen Zeiten fehlt, ist der Geist der Aufrichtigkeit, denn die Losung der Zeit heißt: Geld! Ihr Alle jagt darnach, die Einen aus Gewohnheit, die Andern, um wie Götter in Frankreich leben zu können, und ein großer Theil, zu dem auch ich mich rechnen muß, um nicht zu verhungern. Uns Armen wird, wenn ja ein Richter diese Welt richten wird, die Sünde, leben zu wollen, verziehen werden; euch Andern wird nicht nur der Tanz um's goldne Kalb hoch angerechnet werden, sondern auch die Heuchelei, mit der ihr euch selbst und Anderen vorlügen wollt, ihr betetet den Gott der Freiheit an. Liberal, wie ihr seid, wird auch dermaleinst die Strafe gegen euch ausgetheilt werden." Und sehen wir denn so ganz hoffnungslos in die Zukunft des deutschen Theaters?" »Ich zögere mit der Antwort, weil ich mich nicht berufen fühle, im Namen des ganzen Volkes zu sprechen, welches allein wissen und ahnen kann, wie lange eine gründliche soziale und politische Neugeburt noch auf sich warten läßt." Aude.

Der Men sch.

VII.

,.Rawr hal weder Rem nach-chalc, Alle» ist sie mil einem Male." Goethe. Die EntwickelungStheorie glaube ich nun so weit gekennzeichnet zu haben, daß dem Leser eine Andeutung des Entwickelungszanges selbst, wie ihn die moderne Naturwissenschaft annimmt, nicht mehr unverständlich erscheinen kann. CS ist hier aber gewiß am Platze, wenn ich dem nun zu behandelnden Gegenstande Einiges über denAnfang der Dinge" vorausschicke. Bezüglich dieses Punktes haben ganze Schaaren angeblicher Philosophen älteren und jüngeren Datums unzählige schriftstellerische Sünden begangen, ohne aus dem Rahmen mystischer Spekulationen herauszutteten; man kann daher füglich nichts von all' dem theologischen, methaphysischen und ähnlich gearteten Geflunker zu einem exakten Beweisvcrfahren gebrauchen. Zu einem solchen eignet sich vielmehr nur die Unter-

suchung der Dinge selbst. Geben unS diese auch keinen Aufschluß über Alles, was wir genau wissen möchten, so unterrichtet uns ihre Beschaffenheit doch wenigstens über Vieles; und im Ueb- rigen müssen wir unsere Sinne nicht unnütz erregen und hiedurch zu geistreichelnden Verwirrungen hinlenken. Im Laufe der Zeit haben wir Manches erkennen gelernt, was uns völlig unent- räthselbar geschienen; die Zukunft wird unsere Erkenntniß ohne Zweifel noch beträchtlich erweitern. Spricht man vomAnfange der Dinge", so verübt man schon an und für sich einen Unsinn. Denn dieseDinge" sind die Materie, der Stoff, das Handgreifliche und können einfach niemals einen Anfang genommen haben; es ist nur möglich und auch in den Thatsachen begründet, daß sich die Form der Materie ändert, und daß irgend ein bestimmter Wechsel dieser Form der Gesammtmaterie oder einzelner Theile derselben beginnt und

«r. 19. 1876.