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Wir wissen und wir werden wissen!
Ein Beitrag zu den wichtigsten Fragen des menschlichen Denkens.
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Es war in der zweiten allgemeinen Sigung der 45. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte, am 14. August 1872, da der berliner Physiologe Emil Du Bois- Reymond jenen denkwürdigen Vortrag, leber die Grenzen des Naturerkennens" hielt, der nicht zum mindesten gerade des trostlosen, bedeutungsvollen Schlußwortes wegen während eines halben Jahrzehnts sozusagen das Krystallisationszentrum reaktionärer Bestrebungen auf dem Gebiete der Naturwissenschaft und Philosophie war. Jenes verhängnißvolle Schlußwort aus dem Munde eines gefeierten Forschers lautete, zur Freude aller derer, denen das Licht der wissenschaftlichen Forschung ein Greuel, zum Bedauern aller jener, welche im Dienste der Wissenschaft ihre ganze Kraft einsehen, um mitzuhelfen, dem Mysterium des Natur- und Menschenlebens den Schleier abzuheben, nicht anders als:
Ignoramus!" und„ Ignorabimus!" „ Wir wissen nicht und wir werden nicht wissen!"
"
Ja, das war ein Jubel unter den Freunden der Unwissenheit, ein Beifallnicken und ein gottgefälliges Händefalten unter den Gläubigen" aller Nationen, als es aus dem Lager der Naturforscher selbst, aus dem Munde eines bislang gefeierten Priesters wissenschaftlicher Wahrheit herausfloß:„ Ignoramus et Ignorabimus!" Das war ein Armuthszeugniß, ausgestellt vom Aeltesten der Armen selbst. Nun durfte man wieder kräftig " glauben", da man doch nicht wissen werde"; nun durfte die Theologie neuerdings Hoffnung haben, zu jener Macht und zu jenem Ansehen zu gelangen, was seit dem Aufblühen der Naturwissenschaft so schnell im Abnehmen begriffen war.
In der That, die Du Bois- Reymond 'sche Rede bildete den Ausgangspunkt einer Rückwärtsbewegung. Mancher bisher thätige und hoffende Naturforscher wurde stuzzig und legte sich schließlich die Frage vor: ob es sich denn auch wirklich verlohne, sein ganzes Leben der ernsten, schwerfälligen Forschung zu widmen, wenn wir doch nie dazu kommen werden, die„ Räthsel der Körperwelt" zu begreifen. Von diesem Standpunkt des Fragestellers aus, den wir allerdings heute kaum mehr als den richtigen anerkennen werden, der aber doch bei schwankender Berufswahl oft den Ausschlag gibt, ist es ein kleiner Schritt zu dem Standpunkt des Muthlosen und Verzweifelten, der aus lauter Unmuth und Resignation die Hände in den Schoß legt, um andern zu überLassen, an nicht zu knackender Nuß zu beißen.
sei dasselbe nichts anderes, als ein Zurüdführen der Veränderungen in der Körperwelt auf die Bewegungen der kleinsten untheilbaren Körpertheilchen, die man als Atome bezeichnet und aus denen jeder Körper zusammengesetzt ist. Diese Bewegungen der Atome werden durch Centralkräfte bewirkt, welche jenen fleinsten Stofftheilchen untrennbar innewohnen und von der Zeit unabhängig sind. Wenn nun alle Veränderungen der Körperwelt sich auflösen ließen in Bewegungen kleinster Theilchen, denen unveränderliche und ewige Centralfräfte innewohnen, wenn also alle Veränderungen auf die Mechanik der Atome zurückgeführt werden könnten, so wäre das Weltall naturwissenschaftlich erkannt. Alles wäre dann mathematische. Nothwendigkeit. man dürfte sich sogar einen Grad von Naturerkenntniß denken, bei welchem alles, was in der Welt vorging, heute vorgeht und in Zukunft noch geschehen wird, durch eine einzige, allerdings höchst verwickelte mathematische Formel ausgedrückt werden könnte. Schon Laplace, dem wir die großartigste und tiefsinnigste Auffassung des Sternenhimmels verdanken, spricht von solcher Art der Naturerkenntniß:
Ja
„ Ein solcher Geist, der für einen gegebenen Augenblick alle träfte fennt, welche in der Natur wirksam sind, und die gegenwärtige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analysis( mathe matischer Berechnung) zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und des leichtesten Atoms begreifen: Nichts wäre ungewiß für ihn, und Zukunft wie Vergangenheit wäre seinem Blicke gegenwärtig. Der menschliche Verstand bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben vermocht hat, ein schwaches Abbild solchen Geistes dar."
Dieser großartige Gedanke, welcher für die Wissenschaft als höchstes Ziel hinstellt, schließlich die ganze Zukunft vorauszusehen, nicht minder, als das vollendetste Wissen auch aus den tiefsten Tiefen der Vergangenheit heraufzuholen und dadurch den menschlichen Geist zum„ Allwissenden" im eminentesten Sinne des Wortes zu machen, überragt an Hoffnungsreichthum selbst die üppigsten Vorstellungen des religiösen Mysticismus. Wir werden nur bedauern, heute noch empfinden zu müssen, daß das menschliche Gehirn zu schwach ist, um zur Aufstellung jener mathematischen Formel, dem Schlüssel der Allwissenheit, befähigt zu sein. Wohl sind die Astronomen unserer Tage im Stande, aus Viele haben Du Bois- Reymond nicht verstanden und der jezigen Stellung der Himmelskörper genau zu ermitteln, an dazu gehören zumeist jene, die auf positiv- theologischem welchem Tag und zu welcher Stunde vor Jahrhunderttausenden, Standpunkt stehend jede anscheinend reaktionäre Bewegung sagen wir z. B. anno 299,998 vor Christi Geburt, da ja schon allezeit mit Beifall begrüßen. Sie haben alle mit Selbstbefriedi- Menschen auf der Erde lebten, eine Mondfinsterniß zu sehen war gung darauf hingewiesen, daß wir die Naturforscher und deren von jener Stelle aus, wo jetzt Rom steht, ebenso gut, als uns Freunde wir, die wir das Räthsel des Naturlebens und des dieselben Astronomen sagen werden, ob und an welchem Tag und menschlichen Daseins zu erforschen hoffen, am Ende nichts, gar zu welcher Stunde im Jahr 10,077 n. Chr. für unsere Erde nichts wissen, daß also der" Glaube" noch immer berufen sei, eine Sonnenfinsterniß eintreffen wird. Aber dieses Maß von dem innersten Drang des Einzelnen zu genügen, oder mit Naturerkennen und Berechnen ist im Vergleich zu dem, was erst salbungsvolleren Worten: daß die beste Weisheit eben diejenige, noch erkannt und berechnet werden müßte, ehe man an jene große deren Anfang die Furcht des Herrn sei. Weltformel herantreten könnte, ein minimes, verschwindend kleines. und ehe jene Weltformel aufgestellt werden könnte, müßten für uns alle Stoffe, so verschiedenartig sie uns erscheinen, auf eine einzige Grundsubstanz zurückführbar sein, deren Anordnung und Bewegungen uns als verschiedenartige Eigenschaften der Materie erscheinen würden.
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So, und noch viel anders tönte es seit 1872 an allen Enden, wo sich Wissenschaft und Glaube, Naturwissenschaft und„ göttliche Offenbarung" in den Haaren lagen.
Aber fünf Jahre später, auf der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte, kam ein anderer Physiologe, ein nicht minder gefeierter Mann der Wissenschaft, der Botaniker Professor Dr. Carl Nägeli in München , um in der zweiten allgemeinen Sigung, am Donnerstag den 20. September 1877 ebenfalls über „ Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniß" zu reden und in flarer, leichtverständlicher Weise den Nachweis zu leisten, daß man unrecht that, mit einem Armuthszeugniß zu schließen, wie es Du Bois- Reymond gethan, sondern daß wir nach genauer Orientirung mit Genugthuung und freudiger Zuversicht zu dem Schlusse kommen müssen:
" Wir wissen und wir werden wissen!"
Die Wissenschaft ist die größte Macht im Leben der Völfer. Es verlohnt sich daher für alle Denkenden wohl der Mühe, von den beiden Physiologen, Du Bois- Reymond und Carl Nägeli , zu hören, was wir wissen und wissen werden und was wir nicht wissen und niemals wissen werden.
A
Du Bois- Reymond ist nun allerdings der Ansicht, daß der menschliche Geist doch nur stufenweise von dem von Laplace gedachten Geiſte verschieden sei; die Unmöglichkeit, jene mathe matische Weltformel( welche für uns den Schlüssel zur Allwissenheit bedeutet) aufzustellen, sei keine grundsätzliche, sondern sie be ruhe nur auf der Unmöglichkeit, die nöthigen thatsächlichen Be ſtimmungen zu erlangen und selbst wenn dies möglich wäre, auf der unermeßlichen Ausdehnung, Mannigfaltigkeit und Verwicklung eben jener Weltformel.
Da der von Laplace gedachte Geist die höchste denkbare Stufe des Naturerkennens darstellt, so benüßt Du Bois- Reymond die Voraussetzung jener höchsten Fähigkeit zur Untersuchung über die Grenzen unseres eigenen Naturerkennens, das ja noch so un endlich weit von jener vollkommenen Stufe entfernt ist.
Du Bois- Reymond kommt hierbei zu dem Schlusse, daß es zwei Stellen sind, wo auch der von Laplace gedachte Geist ver