-
201
-
Wir wissen und wir werden wissen!
Ein Beitrag zu den wichtigsten Fragen des menschlichen Denkens.
( Fortsetzung.)
Du Bois- Reymond hat seine Ergebnisse als„ Grenzen des Naturerkennens" bezeichnet. Wenn wir aber nach ihm doch unmöglich je im Stande sein werden, über das Wesen von Materie und Kraft und über das Wesen des Bewußtseins ein positives Verständniß zu gewinnen, so dürfte es, wie Nägeli ganz richtig bemerkt, doch eher am Blaze sein, das Votum des berliner Physiologen als„ Nichtigkeit oder Unmöglichkeit des Naturerkennens" aufzufassen.
Nägeli, auf dem Gebiet der botanischen Physiologie nicht minder als bewährter und zuverlässiger Forscher bekannt, wie es Du Bois- Reymond in seiner Disziplin ist, hat es für nothwendig erachtet, in seiner jüngst gehaltenen denkwürdigen Rede das Thema über die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniß" neuerdings zur Erörterung zu bringen, um die Frage nicht blos nach der verneinenden Seite zu behandeln, wie es Du Bois- Rey mond gethan, sondern zu untersuchen, ob nicht der menschliche Geist zu naturwissenschaftlicher Erkenntniß befähigt sei und von welcher Beschaffenheit und von welchem Umfange diese Erkenntniß sich darstelle.
"
Nägeli thut dies in so klarer, selbst dem Laien verständlicher Weise, daß seine Rede wohl als musterhaftes Vorbild für alle philosophischen Abhandlungen, welche einem weiteren Kreise als demjenigen der ausschließlichen Philosophen" zugänglich gemacht werden sollen, gelten dürfte. Seine Sprache ist einfach und nüchtern, seine Logik unwiderstehlich; überall fußt er auf naturwissenschaftlich erkannten Thatsachen und er sett von seinen Lesern und Hörern nichts anderes voraus, als die Kenntniß der elenientarsten Erscheinungen in den verschiedenen Gebieten der Natur. Darum wird er von allen verstanden, von niemanden kann er mißverstanden werden.
Wenn wir es daher unternehmen, hier auf das Nägeli'sche Votum näher einzugehen, so geschieht es eben der Wichtigkeit der Frage selbst wegen. Nägeli's Rede ist eine That von eminenter Tragweite, und dies zwar um so mehr, als sie gerade in die denkwürdigen Tage der münchener Naturforscherversammlung fiel, woselbst die an allen Enden lauernde Reaktion den frappantesten Ausdruck durch die Virchow'sche Rede über„ die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staatsleben" gefunden hat*). In der That ist es ein höchst merkwürdiges Zusammentreffen, daß es zwei berliner Professoren ersten Ranges waren, welche( anno 1872 durch Du Bois- Reymond und anno 1877 durch Virchow) die Reaktion in der Naturwissenschaft heraufzubeschwören und in's vielversprechende Dasein einzuführen die Ehre hatten, während es ein Forscher ersten Ranges und besten Klanges an einer bayrischen, also vorwiegend katholischen Hochschule war, welcher mit fräftigem Arm dem Wagen der allmählich in's Rollen gerathenden Reaktion in die Speichen fiel.
Du Bois- Reymond mußte jeden konsequenten Biologen unbefriedigt lassen, Virchow wollte dabei nicht stehen bleiben, sondern gefiel sich, die Macht der Wahrheit und Erkenntniß in ängstliche Schranken zu schlagen; er mußte' bei allen Freunden des wissenschaftlichen Fortschrittes einen kläglichen Eindruck hinterlassen Nägeli aber hat wieder aufgerichtet, was jene zerstörten, und sein Votum wird bei allen freien Denkern einen freudigen Widerhall finden.
-
Nägeli sucht die Lösung der Frage: In wie fern und wie weit vermag ich die Natur zu erkennen? in der Beantwortung der folgenden Theilfragen:
1) Welcher Art ist die Beschaffenheit und Befähigung des Jch? 2) Welcher Art ist die Beschaffenheit und Zugänglichkeit der Natur?
3) Welches sind die Forderungen, die wir an das Erkennen stellen?
Die Frage über die Beschaffenheit und Befähigung des Ich löst sich folgendermaßen: Wir vermögen einzig und allein nur durch sinnliche Wahrnehmung Kunde von den natürlichen Dingen
*) Vergleiche ,, Neue Welt", 3. Jahrgang Nr. 5 u. 6, wo unter dem Die Reaktion auf der münchener Naturforscherversammlung" die Virchow'sche Rede beleuchtet wurde.
Titel:
"
zu erhalten. Wenn wir nichts sehen und hören, nichts riechen, schmecken und betasten fönnten, so wüßten wir überhaupt nicht, daß etwas außer uns ist, noch auch, daß wir selber körperlich sind. Unsere Erkenntniß ist nur wahr, insofern die sinnliche Wahrnehmung und die innere Vermittlung wahr sind.
In welcher Ausdehnung geben uns aber die Sinne Kunde von den Erscheinungen?
In der Zeit ist es nur die Gegenwart und im Raum nur dasjenige, was unsern räumlichen Verhältnissen entspricht. Wir können unmittelbar nichts von dem bemerken, was in der Vergangenheit war und was in der Zukunft sein wird, nichts von dem, was im Raume zu entfernt ist und was eine zu große oder was eine kleine Ausdehnung hat.
-
Welche Vollständigkeit besigen aber die Wahrnehmungen unserer Sinne? Dies führt uns auf die Frage von der Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane, jene dem Menschen und den höhern Thieren zukommenden Werkzeuge, die für bestimmte Naturerscheinungen sehr empfindlich sind. Diese Sinnesorgane haben sich im Laufe zahlreicher auf einander folgender Arten und zahlloser Generationen innerhalb jeder einzelnen Art von scheinbaren Anfängen aus auf hohe Stufen vervollkommnet. Der geniale Gedanke Darwin's , daß in der organischen Natur nur solche Einrichtungen zur Ausbildung gekommen sind, welche dem individuellen Träger Nußen gewähren, ist so einfach, so vernunftgemäß und so sehr in Uebereinstimmung mit aller Erfahrung, daß die hier allein kompetente Physiologie unbedingt zustimmt und sich höchstens verwundert, daß nicht schon längst ein Columbus dieses physiologische Ei festgestellt hat."( Wir sehen hier, daß der bedächtigste und gewissenhafteste der lebenden Physiologen, Nägeli, die Abstammungs lehre als nicht weiter zu disputirende Wahrheit hinsett, ja, daß er den Gedanken Darwin's von der natürlichen Zuchtwahl als eine einfache, vernunftgemäße Entdeckung betrachtet, ähnlich dem Gedanken des Columbus, das Ei auf die plattgedrückte Spitze zu stellen. Nägeli ist so indiskret zu stellen. Nägeli ist so indiskret wahrscheinlich zum größten Leidwesen aller Reaktionäre auszuplaudern, daß die„ hier allein kompetente Physiologie unbedingt zustimmt". Das muß Virchow wohl überhört haben, da er zwei Tage nach Nägeli's Rede gegen Einführung der Abstammungslehre in die Volksschule votirte, weil die Deszendenz ja nicht bewiesen sei.)
Vor und während der Entwicklung des Menschengeschlechtes aus thierischen Vorfahren haben sich im Kampf um's Dasein eben nur soviele Sinnesorgane entwickelt und jedes einzelne Sinnesorgan nur jene Stufe der Vollkommenheit erreicht, welche genügten, um den Sieg im Kampf um die Existenz zu ermöglichen. Während wir z. B. gute Organe für die Aufnahme von Lichtund Schallwellen besißen, fehlt uns ein Sinnesorgan für die uns umgebende Elektrizität; denn es hatte keinen Nußen, daß der Sinn für die Elektrizität in den höhern Thieren und im Menschen besonders ausgebildet wurde, da es für die Spezies( hier also für das ganze Menschengeschlecht) gleichgiltig ist, ob jährlich einige Individuen vom Blitz erschlagen werden oder nicht."
-
Der Mangel eines solchen Organs sagt Nägeli- hätte leicht die Ursache werden können, daß wir von der Elektrizität nichts wüßten. Wir können uns die Atmosphäre der Erdkugel ganz gut ohne Blizz und Donner vorstellen. Diese großen elektrischen Entladungen haben uns zur Elektrizitätslehre verholfen, nicht etwa ein besonderes Sinnesorgan, das für die elektrischen Naturvorgänge so empfindlich wäre, wie das Auge für das Licht. Unsere Sinne sind eben nur für die Bedürfnisse der förperlichen Existenz, nicht aber dafür organisirt, daß sie unser geistiges Bedürfniß befriedigen, daß sie uns Kenntniß von allen Erscheinungen in der Natur verschaffen und uns darüber belehren sollen.
Wir können uns also nicht darauf verlassen, daß die sinnlichen Wahrnehmungen uns über alle Erscheinungen in der Natur Kunde geben; im Gegentheil ist es sogar wahrscheinlich, daß es noch Naturkräfte und Bewegungsformen gibt, die uns entgehen, weil wir feine Empfindung davon erlangen, aus Mangel eines betreffenden Organes.
Nr. 17 1877,78.