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Unsere Fähigkeit, die Natur direkt durch unsere Sinne wahr| zunehmen, ist also eine nach zwei Seiten beschränkte; denn wir entbehren wahrscheinlich das Empfindungsvermögen für ganze Gebiete des Naturlebens, und wo uns die Empfindung ermöglicht ist, trifft sie nach Raum und Zeit nur einen äußerst kleinen Theil des Ganzen.
Freilich erstreckt sich unsere Naturerkenntniß nicht bloß auf das durch die Sinne Wahrgenommene. Durch Denken und Schlüsseziehen gelangen wir auch zu Kenntnissen von dem, was die Sinne nicht erreichen. Die Astronomie hat z. B. die Existenz des fernsten Planeten unseres Sonnensystems, des Neptun , bewiesen, ehe dieser Planet selbst durch das Teleskop mit dem Auge
entdeckt wurde.
Es dürfte für jedermann eine große Zahl von Beispielen gegenwärtig sein, welche drastisch beweisen, daß wir durch Schlüsse zu ebenso sichern Wahrheiten gelangen können, als durch die Sinneswahrnehmung. Ja, wir gelangen sogar in vielen Fällen allein durch Schlüsse aus sinnlich wahrgenommenen Thatsachen zu ebenso sichern Thatsachen, die sinnlich nicht wahrnehmbar sind. Hierfür bringt Nägeli einige gut gewählte Belege. Wir wissen, obgleich wir es mit dem besten Mikroskop nicht sehen, daß das Wasser aus kleinsten in Bewegung begriffenen Theilchen oder Molekülen besteht, und wenn es Zucker- oder Salzwasser ist, so fennen wir auch ganz genau das verhältnißmäßige Gewicht und die verhältnißmäßige Zahl der Wasser-, Zucker und Salztheilchen, welche es zusammensetzen.
Aber es wäre eine allzu sanguinische Hoffnung, wenn wir glauben wollten, daß es dereinst gelingen dürfte, von dem kleinen Gebiet aus, welches uns die Sinne aufschließen, nach und nach das Gesammtgebiet der Natur durch den Verstand zu erobern.
„ Diese Hoffnung kann niemals in Erfüllung gehen." Denn wie die Wirkung jeder Naturkraft mit der Entfernung abnimmt, so vermindert sich auch die Möglichkeit der Erkenntniß und zwar in gleichem Maße, wie die zeitliche und räumliche Entfernung wächst. Selbst der mit den kühnsten Hoffnungen erfüllte Freund der Astronomie wird es niemals für möglich halten, daß uns jemals gelingen werde, die Geschichte eines Firsternes letter Größe zu erforschen oder daß wir Aufschluß erhalten über das organische Leben auf den für unser Auge unsichtbaren Tra= banten jenes fernsten, für uns noch wahrnehmbaren Firsternes. Unser eigenes Ich ist also nur beschränkt befähigt und wird somit nur eine äußerst fragmentarische Erkenntniß des Weltalles. ermöglichen.
Die zweite Theilfrage, welche Nägeli zu beantworten sucht, ist die Frage nach der Beschaffenheit und Zugänglichkeit der Natur. Wir haben diese Frage schon am Schluß der vorigen Satzes gestreift. Das Weltall ist nicht, wie das eigene Ich, etwas Begrenztes, sondern etwas Endloses. Selbst wenn der Mensch die geistige Befähigung besitzen würde, um die berühmte mathematische Formel für alle Bewegungen aufzustellen, welche in der organischen und unorganischen Welt in einem bestimmten Augen blicke sich vollziehen, so würde dieser universelle Geist doch das Laplace'sche Problem der vollkommensten, mathematischsten Erfenntniß der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht lösen können. Dies wäre nur dann möglich, wenn das Weltall nach
allen Beziehungen, nach Raum und Zeit endlich, begrenzt wäre, von welcher Vorausseßung Laplace stillschweigend ausgeht. Allein „ die Natur ist räumlich nicht blos unendlich groß; sie ist endlos. Das Licht legt in einer Sekunde eine Strecke von 42,000 geographischen Meilen zurück; um die ganze uns bekannte Fixsternwelt zu durcheilen, bedürfte es nach wahrscheinlicher Schäzung 20 Millionen Jahre. Versehen wir uns in Gedanken an das Ende dieses unermeßlichen Raumes, auf den fernsten uns befannten Fixstern, so würden wir nicht in's Leere hinausblicken, sondern es thäte sich ein neuer gestirnter Himmel vor uns auf. Wir würden glauben, wieder in der Mitte der Welt zu sein, wie jetzt die Erde uns als deren Centrum erscheint. Und so können wir in Gedanken den Flug vom fernsten Fixstern endlos fortsezen, und unser jeßiger Sternenhimmel ist schließlich dem Weltall gegenüber noch unendlich viel kleiner, als das kleinste Atom im Vergleich zum Sternenhimmel."
Ganz ähnlich wie mit der unfaßbaren, endlosen Größe des Weltalles als einem Ganzen, verhält es sich mit der unfaßbaren Kleinheit der denkbar kleinsten Theilchen, aus welchen alle Körper, die belebten wie die leblosen, zusammengesetzt sind. Wir haben schon oben bemerkt, daß Nägeli mit Du Bois- Reymond insofern vollständig einig geht, wenn gesagt wird, daß es keine physi kalischen Atome im strengen Sinne des Wortes geben kann, feine Körperchen, die wirklich untheilbar wären.
Aber noch eins: Die Bibel sagt- Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde!"
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Und die Wissenschaft sagt:" Im Anfang war die Welt eine gasförmige Masse, aus welcher sich die Weltförper verdichteten." Aber rückwärts, hinter diesem Anfang" liegt eine anfangslose Zeit, eine vergangene Ewigkeit", wie vor uns eine endlose Zukunft liegt. Die Zeit ist nach zwei Richtungen nach Vergangenheit und Zukunft-endlos. In der Ewigkeit der Zeit und in der Endlosigkeit des Raumes bewegen sich die Dinge, und alle diese Bewegungen sind nichts anderes, als eine endlose Kette von Ursachen und Wirkungen. Die Physik hat den Say aufgestellt, daß Kraft und Stoff unvergänglich sind, daß die Materie ewig ist, wie die ihr innewohnende Kraft. Was aber endlos und was ewig ist, bleibt unerforschlich.
Die Natur fann daher als Ganzes nicht erfaßt werden; denn ein Prozeß des Erkennens, welcher weder Anfang noch Ende hat, führt nicht zur Erkenntniß.
Aus diesem Grunde erscheint auch das Problem von Laplace von vornherein nichtig. Nägeli beweist dies mit unerbittlicher Logik und gelangt daher zu dem Schlusse:" Der Naturforscher muß sich wohl bewußt werden, daß seine Forschung nach allen Beziehungen innerhalb endliche Grenzen gebannt ist, daß von allen Seiten das unerkennbare Ewige ihm ein kategorisches Halt gebietet."
Vergißt er das, so gelangt er, wie die Erfahrung zur genüge beweist, zu irrigen Vorstellungen und zu haltlosen Theorieen. Unser endlicher Verstand ist nur endlichen Vorstellungen zugäng lich, und wenn er noch so folgerichtig sich zu Vorstellungen über das Ewige erheben will, so versagen ihm die Schwingen, und ehe die sonnige Höhe erreicht ist, stürzt er in die endliche und be griffsdunkle Tiefe zurück. ( Fortseßung folgt.)
Der Erbonkel. Novelle von Ernst von Waldow. ( Schluß.)
Wieder schüttelt der Herbstwind die Blätter von den Bäumen, aber es sind Frühlingsgefühle, welche die Herzen der beiden Schwestern bewegen, die in dem kleinen Hause mit den grünen Fensterladen im nett gehaltenen Wohnstübchen ſizen und aller hand zierliche Sächelchen fertigen, von denen ein flüchtiger Beobachter meinen würde, daß sie für die Ausstattung einer großen Weihnachtspuppe bestimmt seien.
Die stattliche junge Frau seufzt wohl zuweilen noch im stillen, wenn sie ihrer fühnen Hoffnungen gedenkt, die so schmählich sich in blauen Dunst auflösten, aber es ist nicht mehr der Goldschmuck noch das Seidenkleid und der türkische Shawl, die als liebliche Fata morgana sie an jenem unvergeßlichen Maimorgen umgau-| felten, an dem das Testament des Onkels eröffnet ward, es
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ist der Gedanke, daß für den Erben, welchen sie erwartet, keine Erbschaft zu erhoffen ist, denn" Onkel Hans", der neue Erbonkel, ist durchaus nicht gesonnen, als einsamer alter Junggesell sein Leben zu vertrauern, im Gegentheil, er ist der glückliche Bräutigam Adelgundens, die in einem Meer von Seligkeit schwimmt und ein wenig verspätet allerdings die bräutliche Wonne in reichem Maße kostet.
Röschen gönnt der Schwester ihr Glück, und nur wenn diese sie triumphirend darauf aufmerksam macht, daß sie nun dennoch das Ziel erreicht, welches sie sich vor ihrer Abreise von Wolfs burg gesteckt, und den Schatz des Erbonkels errungen habe, erinnert die junge Frau sie zuweilen daran, daß damals diese Erbschaft dem geliebten Theobald zugute kommen sollte. Adel