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lionen von Exemplaren den Weltrapport. Auf den unsichtbaren Schwingen der Elektrizität sind die 89,304 im Orient gefallenen Russen und die 267,480 in Holland   ausbarkirten Kaffeesäcke nur Ziffern. Die Entdeckung eines Jupitersatelitten, die Geburt eines zweiföpfigen Kalbes, nebst der Nachricht von der feierlichen Be­stattung des Papstes in Rom   und des weißen Elephanten in Siam servirt der Reporter dem neugierigen Moloch, Publikum genannt, in einer und derselben Schüssel. Und versiegen in den Hunstagen alle Neuigkeitsquellen, so füttert die Zeitung mit stets bereitgehaltenen Enten die Seeschlange.

Was wären unsere Maul- und Federhelden, unsere Prima­donnen und Quacksalber ohne den tausendfachen Widerhall der gemietheten Ruhmespauke? Die größte Zeitung ist zu klein für das Aquarium der Inserateninfusorien. Aus Steckbrief und Theaterzettel, dem Herold der Lumpen- und der Lampenwelt,

Pariser   Skizzen.

I.

Paris, 8. März 1878.

Im Gedanken an die sozialen Stürme, welche Frankreich   zu einer Zeit bewegt haben, als Deutschland   noch in tiefem Schlafe lag, empfindet man angesichts der heutigen Kontraste fast ein schmerzliches Staunen. Denn während das Heer der germanischen Arbeiterbataillone Lassalle's kühnste Hoffnungen weit überflügelt hat, erinnert die kleine Partei hinter Lutetia's Mauern an die Gemeinden der ersten Christen, die sich heim­lich zu nächtlicher Stunde in den römischen Katakomben vereinten.

Diese Betrachtung tauchte mir neulich lebhafter auf, als je. Es war ein dunkler Abend, und klatschend fiel der Regen in die kothigen Gassen der Proletarier, als wir zum Montmartre, hoch im äußersten Norden von Paris  , emporstiegen. Man hatte uns zu einer Konferenz berufen; die Präliminarien zum internationalen Sozialistenkongreß beider Hemisphären galt es zu beschließen. Wir traten in den elenden Ver­sammlungssaal, ein Volkstheater niedrigster Art, durch bessen rohes Bretterdach uns das Wasser auf die Köpfe troff. Ein paar Talgkerzen warfen ihr dürftiges Licht auf die Bühne. Dort vor der plump be­malten Leinwand, die wohl nie den stillen Ernst der ächten Kunst ge­sehen, stand der Tisch des Präsidenten; unten, in schattiger Dämmerung, saßen die wenigen Getreuen. Und sie selbst: ihr Wille war gut; aber Klarheit besaßen nur einige Auserwählte. Den Freund, in dessen Begleitung ich gekommen, einen bewährten Kämpfer in unseren Reihen, hatte ich unterwegs gefragt, wie hoch er die Zahl der pariser Sozia­listen wohl schäße. Fünfzig", war seine Antwort, sind Sozialisten mit vollem Bewußtsein; eine blasse Ahnung von dem, was sie wollen, haben noch hundert andere, und etwa zweitausend gehen mit uns, wenn's drauf ankommt."

Da hatte Herr Thiers freilich nicht so ganz unrecht, als er sagte: ,, Es gibt keinen Sozialismus mehr in Frankreich  ." Und er wußte wohl, warum; denn in diesem gesegneten Lande ist die Ordnungs­partei" glücklicher gewesen, als in deutschen   Gauen. Auch dort hat zwar ein großer Chemiker die Phiole geschwungen, auf der statt ,, Ratten­gift" die Worte standen: ,, Die Flinte schießt, der Säbel haut!" Aber zu seinem und seiner giftkundigen Freunde Bedauern unterminiren die gefürchteten Ratten gar ernst und ruhig und gesetzlich den alten, vom Schwamme durchfressenen Bau: er wird zusammenstürzen, noch ehe das Siegel von dem hülfreichen Fläschchen gelöst ist. Und einstmals findet sich gegen Gift wohl auch ein Gegengift; denn auch die Ratten gehören dem Fortschritt an.

Hier war es eben anders. Hier erbrach man nicht erst das Siegel; hier schlug man dem zauberkräftigen Glase den Hals ab, und der Gift strom ergoß sich vernichtend über siebzehntausend Kämpfer der Gerechtig­teit. Da freilich hatte man Frieden es, war die Stille des Todes.

Meinte wohl Victor Hugo   noch einen anderen, als er neulich bei der Büste Ledru Rollins unsere Zeit das Jahrhundert der Pacifikation, der Friedensstiftung, nannte? Fand er wirklich eine Friedensbürgschaft in der Verfassung dieser Bourgeoisrepublik? O glücklicher Dichter genius, dessen glutherfüllte Phantasie in schwärmerischer Selbsttäuschung ihren Herzenswunsch zur vollen, lieblichen Wirklichkeit umgewandelt sieht! Du erkennst in deinem poetischen Optimismus nicht die ekle Verwesung, die unter übertünchten Gräbern verborgen ist; und die Menschen müßten Dichter sein wie du, wollten sie die soziale Entwick­lung ihrem Gipfel schon so nahe erblicken. Ja, träumen und glauben das wäre ein Ersatz für das fehlende Glück: wenn man nur glauben könnte. Aber die Poesie ist ein seltenes Geschenk; und mit unerbitt­licher Zuchtruthe hat die Noth uns entnüchtert und zum Denken gereift. Und so wissen wir, daß wir den von uns erstrebten Frieden erst erkämpfen müssen; und wir gedenken dessen umsomehr, weil uns jene Todten unvergeßlich sind. Denn nicht nur der Zukunft glänzender Himmel gibt uns Kraft; auch rückwärts, abwärts muß der Blick sich senken, wo unter dem weichen, grünenden Rasen der Squares, der öffentlichen Parkanlagen, wo unter der jungen, sprossenden Saat der Felder in langen Reihen mit zerschmetterten Gliedern unsre Opfer von ihrer Arbeit ruhen. Oftmals, wenn ich über diese stillen Schlummer­

Depossedirten und Defraudanten, Feuerwehr und Malzertrakt, Rendezvous und Raubmord, Aktion und Peterspfennig, Lieder­kranz und frischer Butter, Aftenstaub und Glyzerin, Entbindung und Begräbniß, Selbstbewahrung und Revolver, kurz Verzweiflung und Humor, Bettelei und Schwindel, Begeisterung und Nieder­tracht wird täglich in dem Herenkessel, Redaktion genannt, eine Ollapotrida gekocht, die nur der Kieselsteingepflasterte Magen unserer Zeitgenossen verdauen kann.

Die Zeitung, das Schwungrad des öffentlichen Lebens, vom Sturmgewölf des Meinungskampfs umzuckt, vom Wellensturz des Zeitenstroms bewegt, treibt die Mühle aller Parteien und sorgt auch für das nöthige Kochwasser für alle. Die schneidigste Waffe dieser Tyrannin, die auf dem Kehricht von 40 Jahrhunderten thront, heißt: Der Fluch der Lächerlichkeit.

Dr. Max Trausil.

stätten schreite, schaue ich wie mit Geisteraugen in die Tiefe. Sie stehen vor mir, unsere Helden, die in den Tod gingen, ein Freiheitslied auf den Lippen, die Märtyrer von Satory, die Blutzeugen der heiligsten Joee. Was auch unter der Commune Grauenvolles geschehen, durch die Commune geschah es nicht. Das ist das Unglück jeder revolutio nären Partei, daß, wenn sie zur That schreitet, verbrecherische Elemente sich ihr beigesellen, um im Trüben zu fischen. Aber trägt die beleidigte Gesellschaft nicht die Schuld des Verbrechens, über das sie sich entsetzt? Mache sie nicht die Commune, mache sie sich selbst dafür verantwortlich. Wie also auch die Idee besudelt sei: sie ist der Schwan, der in die Fluthen taucht und dann mit glänzendem Gefieder sich erhebt. Ja, nicht vergebens haben unsere Vorkämpfer den Strauß bestanden: Einstmals wird aus unsren Knochen uns ein Rächer aufersteh'n!"

Dies Wort Virgils, von Platen übertragen, das ist auch ihr propheti­sches Vermächtniß. Und deswegen ist der Sozialismus nicht todt. Berschmettre man auch seine Stirn: so wird die alte, unsterbliche Idee, wie Minerva aus Jupiters   Haupt, in neuer Kraft gerüstet hervortreten, und endlich, endlich wird sie triumphiren.

Aber einen Feind gibt es, mächtiger als Pulver und Blei: das ist der Indifferentismus. Sollte man nicht meinen dort im Châtelet, dem stolzen Bau an der Seine, müsse der Tonstrom rauschender Luſt donnern gleich dem Weheschrei der ermordeten Gerechtigkeit? Denn hier, wo jetzt die raffinirte, tändelnde, blasirte, gedankenlose Masse der Genießenden bei dem Anblick einer wahnsinnigen Zauberposse in Ent­zücken schwimmt; hier, wo der Goldregen unter bengalischem Licht niederrieselt auf die geschminkten Bajaderen: hier hatte der Mord sich die Maske des Gesetzes vorgehalten, hier hatte das Tribunal der Communehenker gestanden, wo ohne Recht ein schauerliches Gericht er­ging; was jetzt sich in des unfaßbaren Leichtsinns, in des kindischen Unsinns Spielstätte gewandelt hat: das ist Schauplatz der Wirklichkeit der grauenvollsten Tragödie gewesen. Ja, mir ist weh um's Herz, wenn ich die riesige Karrikatur Rothomagos, des transparenten Chinesen, über dem Vestibül durch die Nacht leuchten und die Neugierde locken sehe, und wenn ich dann bedenke, welche ungeheure Masse fort und fort nur dem Augenblick dient und seinen Gelüsten.

Vor einigen Tagen feierte man den Mardi Gras, den Carneval  : da war dies Paris  , das so entseßliche Prüfungen bestanden, vollends auf dem Gipfel seiner Tollheit. Gewiß, es ist ein liebenswürdiges Volk; es geht seiner Freude nach, läßt sich nicht stören und stört nicht. Man sieht wohl die ungebundenste Lust, ausgelassensten, wildesten Taumel des Genusses; doch alles ist harmlos; keine Rohheit, keine Brutalität klingt ein in die allgemeine Harmonie: diese Franzosen sind wie gut­geartete fröhliche Kinder.

Aber bedenklich ist diese Disposition für die thatkräftige Erfassung der Idee. Zum großen, ernsten Kampfe gehört es, daß die Herzen von ihrer Liebe zur Freiheit und Gerechtigkeit heilig durchglüht seien; wo aber ist hier diese stille, unauslöschliche Gluth? Wohl greift die Flamme um sich, wenn der Wind einmal bläst; aber es ist ein flackern­des Strohfeuer, das so schnell sinkt, wie es aufgegangen. Frankreich  spielt mit den Revolutionen. Es hat keinen knechtischen Sinn; aber es begnügt sich mit dem Schein der Freiheit. Es ist dasselbe Volk, das heute ,, Hosiannah" und morgen ,, Kreuzige" ruft. Le peuple chante das Volk singt sein Liedchen.

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Aus solchen Betrachtungen entstanden auch die Vorwürfe, der Sozialismus habe eine demagogische Tendenz. Und wäre es wahr; wäre die Menschheit in der That glücklich durch ihre Selbsttäuschung: ja, so wäre die Thätigkeit des Sozialismus verbrecherisch. Aber ent­stehen nicht alle jene Veranstaltungen zur Betäubung aus dem schreienden Bedürfniß? Sind es nicht Noth und Elend, die im Rausche solcher Feste vor sich selber fliehen? Ist nicht der Carneval eine einzige große lügnerische Maske, die tausend Schrecken der Wirklichkeit unter ihrem Flitterstaat verbirgt? Wohl ist es wahr: daß das Volk selbst, daß die Masse, die Noth leidet, nicht aus eigenstem Denken die heilende Idee erfaßt. Weil sie die wirkliche Erlösung nicht findet, blendet sie ihre Augen mit dem Schein. Aber wenn auch die Idee sich nur in her­vorragenden Ingenien erzeugt: ihre Wurzel hat sie im Elend der