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Voltaire und Rousseau und ihre kulturhistorische Mission.
Beitrag zur hundertjährigen Gedenkfeier am 30. Mai und 2. Juli 1878. Von C. Fehleifen.
( Schluß.)
Den Klarsten Einblick in das Wollen und Schaffen Rousseau's erhalten wir durch Betrachtung einiger der wichtigsten seiner Werke; es sind dies die zwei Abhandlungen ,, Ueber die Künste und Wissenschaften" und" Ueber den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen"; diese beiden Schriften sind die kritische Verneinung des Bestehenden, die offene Kriegserklärung gegen die herrschende Bildung und Gesellschaft. In zwei anderen Werken, dem„ Emile" oder„ Ueber die Erziehung" und dem„ Contrât social " macht er einen Versuch zur wirksamen Besserung und Umgestaltung.
In der Abhandlung„ Ueber die Künste und Wissenschaften" brandmarkt Rousseau die damalige Bildung, Wissenschaft und Literatur als nichtiges und verderbliches Flitterwerk und predigt dafür die Einfalt der Natur und die Größe schlicht bürgerlicher Tugend; er geht sogar soweit, im Vergleich zur Ueberfeinerung und Verweichlichung der Gebildeten den Urzustand der Wilden als beneidenswerth darzustellen. Mit sittlicher Entrüstung wendet er sich gegen die Unnatur der herrschenden Schöngeisterei und gegen die todte Gelehrsamkeit des akademischen Zunftwesens, er sieht die Gesellschaft beherrscht von Vorurtheilen, infolge dessen den Menschen seiner freien Selbstbestimmung beraubt und Schein und Trug an die Stelle der Tugend gesezt. Er will die Wissen schaft aus ihrer eitlen inhaltslosen Geschwäßigkeit zurückführen in das frische thatkräftige Leben; er hat ein Gefühl davon, daß es schlecht um ein Gemeinwesen steht, in welchem Leben und Wissen schaft durch eine weite Kluft von einander getrennt sind, statt sich gegenseitig zu durchdringen und zu läutern. Das gedrückte Volk soll nicht umsonst seufzen nach einem Worte der Erlösung, während diejenigen, welche die Priester des Geistes sein wollen, nur für ihr eigenes Laster sorgen und theilnahmlos an dem Elend des Volkes vorübergehen. Er bekämpft daher nicht blos die bestehende Macht, sondern sehr häufig auch die kämpfende Oppo sition.
Die Abhandlung, Ueber die Ungleichheit" ist ein leidenschaft licher Aufschrei der Armen und Gedrückten, eine feurige Kriegserklärung gegen die Grundlagen und Einrichtungen der herrschenden Staatsform, ein Protest des Volkes gegen alles, was die Regierung aus eigener Machtvollkommenheit eingesetzt, gegen die Uebergriffe eines Regiments, das sich gewaltsam unumschränkte Selbstherrlichkeit angemaßt hatte. Hier spricht Rousseau die denkwürdigen Worte:" Der erste, welcher ein Stück Land umzäunte und sich anmaßte, zu sagen, dies Land gehört mir, und der Leute fand, einfältig genug, dies zu glauben, war der Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Welche Verbrechen, welche Kriege, welch' Elend und Schrecken hätte derjenige der Menschheit erspart, welcher die Grenzpfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: Hütet euch, diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Frucht allen und das Land keinem gehört!"
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In dem Emile" legte Rousseau seine Ansichten über die Grundlagen und Bedingungen einer menschlichen und freien Erziehung und Bildung nieder; es erregte eine ungeheure Aufregung und durchzuckte wie ein reinigendet Blizz in schwüler Gewitterlüft die gesammte Menschheit mit dem Bewußtsein, daß eine Wieder geburt von innen heraus nothwendig sei und daß eine Rückfehr zur Einfalt der Natur und zu den natürlichen Grundbedingungen des Lebens vor allem Noth thue. In den Zänkereien der Theologen und Philosophen war immer nur vom Gegensatz des Denfens und Glaubens, der Vernunft und der Offenbarung die Rede gewesen, aber nie von der Macht und dem Recht des menschlichen Herzens, vom Bedürfniß des gemüthswarmen Empfindens. In Rousseau gewinnt diese Religiosität des Herzens ihren begeisterten Ausdruck und bahut sich mit gleicher Kraft und Entschlossenheit ihren Weg gegen die kalte und nüchterne Freigeisterei der Philosophen wie gegen die wilde Verfolgungswuth der Offenbarungsgläubigen; deshalb verschrieen ihn die Atheisten als einen Gläubigen und die Gläubigen als einen Atheisten.
Seine Grundsäße bei der Erziehung sind ungefähr folgende: Das Kind ist zunächst zum Menschen zu bilden, zuerst sind die allgemein menschlichen Anlagen zu entwickeln, es soll nicht für
einen bestimmten Stand erzogen werden; leider aber besteht unsre ganze Weisheit darin, uns sklavisch an Vorurtheile zu binden, in allen unsern Gewohnheiten offenbart sich nichts als Unterwürfigkeit, Bedrückung und Zwang. Der bürgerliche Mensch wird in der Sklaverei geboren und lebt und stirbt in ihr; bei der Geburt wird er in ein Wickelbett gezwängt, nach dem Tode in einen Sarg eingeschlossen, während des Lebens wird er durch unsre vernunftwidrigen Institutionen in Fesseln gehalten. Man soll in dem Kinde stets das Kind erblicken und es seiner Entwicklungsstufe gemäß behandeln; man treibe mit ihm nichts, was über seiner Fassungskraft liegt und wofür es demgemäß kein Interesse haben kann, insbesondere verbittere man dem Kinde die Kindheit nicht dadurch, daß man dieselbe einer ungewissen Zukunft opfert, belaste es nicht mit Fesseln, um ihm ein zweifelhaftes Glück zu bereiten, dessen es sich vielleicht nie erfreuen wird, sondern lasse es ganz sein, was es seiner Natur und seinem Alter nach sein kann.
Ganz besonders bekämpft Rousseau die Ertheilung des konfessionellen Religionsunterrichtes in der Schule; er sagt sehr richtig: Wenn die meisten Menschen selbst im reifern After sich nicht einmal eine klare Gottesvorstellung bilden können, wie wollen wir denn dies von Kindern verlangen? Der Glaube der Kinder wie auch der meisten Erwachsenen ist Sache der Geographie; dem einen, welches in Mekka geboren wurde, sagt man: Mohamed ist der Prophet Gottes, und es spricht diese Worte ebenso gedankenlos nach, wie das andere, welches in Rom geboren wurde, die Worte: Mohamed ist ein Betrüger. Jedes von ihnen würde behaupten, was das andre behauptet, wenn das eine an dem Orte des andern geboren worden wäre. des andern geboren worden wäre. Wie vermessen ist es nun, bei dieser anfänglichen Gleichheit der Seelenzustände das eine in das Paradies, das andre in die Hölle zu senden! Wenn ein Kind sagt, es glaube an Gott, so ist es nicht Gott, an den es glaubt, sondern sein Vater oder Lehrer, die ihm sagen, es gebe etwas, das man Gott nenne.
Da alle unsre Erkenntniß auf den Wahrnehmungen durch die Sinne beruht, so ist der Üebung der Sinne die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Nur in einem gesunden Körper kann eine gesunde Seele wohnen, deshalb ist der Körper von Anfang an zu üben und zu kräftigen; auch sollen die Kinder nicht gar zu ängstlich vor Schmerz und Leid behütet werden, sie sollen solche ertragen und sich beugen lernen unter das harte Joch der Nothwendigkeit, der Erzieher suche das Kind in Lagen zu bringen, in welchen es selbst einen Entschluß fassen lernt, damit es die entsprechende Erfahrung gewinne.
Es soll dem Zögling zum Bewußtsein gebracht werden, daß er, um in der Gesellschaft zu leben, aktiv theilnehmen muß au dem gegenseitigen Austausch der Leistungen, auf dem die Existenz der Menschheit beruht, und daß es Pflicht eines jeden ist, sei er hoch oder niedrig geboren er hoch oder niedrig geboren die Dienste, die er fortwährend beansprucht, durch entsprechende Gegenleistungen zu verdienen; weshalb jeder ein Handwerk erlernen sollte.
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Trotzdem schon Goethe dieses Buch das Naturevangelium der Erziehung nennt, sind wir doch noch weit entfernt davon, sagen zu können, daß die Grundsäge desselben in Fleisch und Blut der Pädagogen übergegangen seien; im Gegentheile zeigen die neuesten Verhandlungen und Anträge des deutschen Lehrervereins, daß unsre frommen Prügelpädagogen weiter als je von dem Ideal einer vernünftigen Erziehungsweise entfernt sind.
Der Contrât social ist das Gesetzbuch der Revolution; die Verfassung von 93 beruht ganz darauf. Man hat versucht, Rousseau's demokratischen Grundcharakter in Abrede zu stellen, weil er die reine Demokratie unter Menschen für unausführbar hielt dazu müßten sie lauter Götter sein, allein das eine und alles seiner Lehre ist die Lehre von der unumschränkten, untheilbaren und unübertragbaren Volkssouveränetät.
Die Vereinigung der Menschen zu einem Staatswesen bietet ihnen nur in dem Falle Vortheil, wenn das Ziel und der Zweck der Gesetzgebung Freiheit und Gleichheit sind, wenn alle Staatsangehörigen etwas haben und keiner zu viel hat. Ein Staat,