"

Diese Freiheit der Formen des Geschehens, wie sie dem Märchen eigenthümlich ist, war es nun gerade, welche über dasselbe ein Meit­gfied jener in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts auf­tauchende Dichtergruppe, die man Romantiker nannte, Hardenberg, folgendes Urtheil aussprechen läßt. Das Märchen ist gleichsam das Kanon( Richtschnur, Muster) der Poesic, alles Poetische muß märchenhaft sein." Er fährt dann fort und bestimmt das Märchen als einen Traum von jener heimathlichen Welt, die überall und nirgends ist. Diese Welt, spielt Hardenberg metaphysisch weiter, die Zeit vor der Welt sei ein in zerstreuten Zügen hingeworfenes Bild der Zeit nach der Welt, sie sei der Wahrheitswelt durchaus entgegengesetzt und somit ihr durchaus ähnlich, wie das Chaos der vollendeten Schöpfung. In der künftigen Welt ist alles wie in der ehemaligen, und doch durchaus anders; die fünftige Welt ist das vernünftige Chaos, das Chaos, das sich selbit durchdrang, das in sich und außer sich ist. Das ächte Märchen mußte zu gleich prophetische Darstellung, idealische Darstellung, absolut nothwendige Darstellung sein. Der ächte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft!"

Bei dieser Fülle von Gesichten", bei diesem kühnen Spiel mit Begriffen und ihren Gegensätzen schweben Hardenberg sein Freund Tieck   mit seinen Märchen und vor allen Dingen auch Goethe vor, dessen Werke ja das Schiboleth und die Bibel der Romantiker waren.

" 1

Märchen noch so wunderbar, Dichterkünfte machen's wahr."

lautete das Motto, welches Goethe an die Spize seiner Balladen stellte.

Besaß er doch, wie er selbst in Dichtung und Wahrheit  " berichtet, schon in früher Jugend die Fertigkeit, mit Geschick und auf spannende Weise Märchen zu erzählen, hatte er doch Vom Mütterchen die Frohnatur Und Lust zu fabuliren!"

und der Märchenstuhl der Frau Aja, wie Goethe's   Mutter in dem Bekanntenkreise genannt wurde, bildete den Mittelpunkt eines Kinderfestes im Garten des Großvaters. ,, Da saß ich und da verschlang er mich bald mit seinen großen, schwarzen Augen, und wenn das Schicksal irgendeines Lieblings nicht recht nach seinem Sinn ging, da sah ich, wie die Zornader an der Stirn schwoll und wie er die Thränen verbiß; manchmal griff er ein 2c." So läßt Bettina von Arnim   die Frau Rath" erzählen.

Als ein von ihm erzähltes Knabenmärchen legte Goethe  " den neuen Paris  " ein in Dichtung und Wahrheit  ". Auch in Sefsen heim, bei seiner Geliebten Friederike Brion  , kommt dem jungen straßburger Studenten diese Gabe wieder zu statten, und er er­zählt unter andern Die neue Melusine", die er später infolge von Aufforderungen aus dem Publikum drucken ließ, freilich werde er es jezo nicht in seiner ersten unschuldigen Freiheit überliefern." Ferner spricht Goethe in seiner mehrerwähnten Selbstbiographie von den Fabeln der Edda*)" und sagt: Sie gehörten unter diejenigen Märchen, die ich, von einer Gesellschaft aufgefordert, am liebsten erzählte." Später noch einmal meldet er, wie er sich zudringlichen Fragen seiner Begleiter bei einer Lustpartie über die Wahrheit seines Werther und den Wohnort Lottens dadurch entzieht, daß er Kinder um sich versammelte und ihnen Märchen erzählte, welche aus lauter bekannten Gegenständen zusammen gefonnen waren, wobei ich den großen Vortheil hatte, daß kein Glied meines Hörerkreises mich etwa zudringlich gefragt hätte, was denn wohl daran für Wahrheit oder Dichtung zu halten sein möchte."

Betrachten wir die Märchen vom literaturgeschichtlichen Stand­punkte aus, so finden wir es unter den Griechen bezeugt bei dem Lustspieldichter Aristophanes  , bei Plutarch   und bei dem

476

*) Edda   bedeutet Aeltermutter und ist der Titel zweier altnordischer Sammlungen von Liedern, welche Thaten der Götter und Helden besingen.

Geographen Strabo  , unter den lateinischen Schriftstellern bei Quintilian  , Apulejus  , der selbst das Märchen vom goldnen Esel" schrieb, und bei dem Kirchenvater Tertullian  . Aber aus noch viel älterer Zeit liegen Zeugnisse für das Märchen vor; so in den altindischen Lehrdichtungen Pantschatantra   und Hitopadesa  ; und in gleicher Weise sind Spuren bei den meisten ältesten orien­talischen Völkern nachgewiesen. Das Märchen ist überall zuhause! Wir heben zunächst nur die wichtigste hierher gehörige Er­scheinung aus dem Orient hervor. Im 16. Jahrhundert wurden arabische Märchen zusammengestellt in der bekannten Sammlung Tausend und eine Nacht  ", welche durch Vermittlung ihres fran­zösischen Uebersetzers Galland auch ziemlich allen übrigen abend­ländischen Völkern zugängig und bekannt wurde. Trotz des Verbotes des Propheten Wahomet wurden Märchen im ganzen islamitischen Orient gern erzählt, gehört und gelesen, da diese Spiele einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom Wirklichen bis zum Unmöglichen hin und wiederschwebt und das Unwahr­scheinliche als ein Wahrhaftes und Zweifelloses vorträgt, der orientalischen Sinnlichkeit, einer weichen Ruhe und einem bequemen Müssiggang höchst angemessen war."( Grimm.) Bis in die Zeit der Sassaniden) hatten sich solche Erzählungen bis in's Unend­liche vermehrt, und es werden dieselben noch heute gar gern wiedererzählt, auch viele neue dazu erfunden, und noch vor kurzem erst lasen wir in den Zeitungen, die gedrückte Stimmung der schweren heutigen Lage in Konstantinopel   zeige sich auch besonders darin, daß in den Kaffeehäusern nur vereinzelte Märchenerzähler ein empfängliches Publikum fänden.

Im Jahre 1550 erschien in Venedig   unter dem Titel Ergötz­ liche Nächte  "( Notti piacevoli) eine Sammlung von Erzählungen, Schwänken, Fabeln und Räthseln, worunter sich 13 Märchen be­finden, welche der Verfasser Giovanni Francesco Strapparola   aus dem Munde zehn junger Fräulein aufgenommen". Wegen einiger sittenloser Episoden hatte das Buch 1605 in Rom   das Mißgeschick, in das Verzeichniß der verbotenen Bücher, den be­fannten Index librorum prohibitorum, zu kommen und es erschien deshalb später in abgekürzter und gereinigter Gestalt. Die Märchen sind das weitaus beste am ganzen Buche.

1637 erschien das Pentameron" des Giambattista Basile  , der im 16. Jahrhundert lebte, eine Sammlung von lanter Märchen, die von allen vor Grimm existirenden die beste und reichhaltigste ist und auch durch und durch volksthümlich auftritt: die Sprache ist der Dialekt des neapolitanischen Volkes und die Darstellung ganz in dem Geiste der wißigen, lebhaften Neapoli­taner und mit Sprüchwörtern und Wortspielen förmlich voll­gestopft, ein Umstand, der freilich die Lektüre für den mit neapoli­tanischer Sitte und Mundart Nichtvertrauten erschwert.

Nach Italien   zeigt Frankreich   zunächst Märchensammlungen, und den Reigen eröffnet hier Charles Perrault  , der 1633 bis 1703 lebte und in einem einfachen, natürlichen Stil erzählte, so­weit es die damals schon glatte und elegante französische   Sprache zuließ. Der Kinderton ist sehr gut getroffen, auch sprechen eine Menge innerer und äußerer Zeichen dafür, daß es sich hier nicht um künstliche Erfindungen, sondern um natürlich im Volke er­wachsene Märchen handelt.

Nicht so ganz gelungen ist es der Gräfin Aulnoy, die ihren Stoff weit willkürlicher behandelte und zuviel Reflexionen ein­flocht. Beide fanden eine Menge Nachahmer, die jedoch alle be­deutend Schwächeres leisteten.

Auch Spanien   besaß und besißt Märchen, wie sich dies aus einer Stelle des Cervantes, des geistreichen Verfassers des " Don Quixote  " ergibt. Ebenso England, Schottland   und Frland und die übrigen nordischen Länder, in deren Literatur öfter Uebersetzungen französischer, Sammlungen und dem ähnliches vor­kommen. ( Schluß folgt.)

*) Persische Königsdynastie, welche von 218-626 n. Chr. regierte, wo sie vom Kalifen Omar gestürzt wurde.

Das Gespenst der Volksaufklärung.

Man kann sich wohl kaum entschiedenere Gegensäze denken, als sie in dem Philosophen von Ferney   und dem eisernſten unter den russischen Herrschern dieses Jahrhunderts verkörpert waren. Der eine der Repräsentant der neuen Zeit, der im Geiste mit

allen Autoritäten im Himmel und auf Erden gebrochen hatte und sie mit Spott und Hohn verfolgte, der andre die Autorität selbst, und zwar die Autorität, welche sich mit allen Mittel, foste es auch tausende und millionen Menschenleben, zu behaupten bemüht