Tag nicht eingebüßt. Vielleicht treibt dereinst, wenn die neue Welt übervölkert ist, der Hunger die europamüden Menschenwogen über den Stillen Ozean nach dem tibetanischen Urheim zurück, wenn bis dahin die Sonne ihre kalorische Thätigkeit nicht eingestellt hat. Die Völkerwanderung der Bärenhäuter, die Kreuzund Römerzüge der Geharnischten und die im Jahrhundert des Dampfes bis zur Manie gesteigerte Touristerei der Plaid gewickelten sind ebensoviele Belege des Mangels an Sizfleisch der blonden Menschengaitung, während der dunkelhaarige Romane, mit Ausnahme des unstäten Zigeuners, selten oder nie zum Vergnügen reist. Deshalb hat wohl auch ein deutscher Schuljunge mehr Geographie im Leibe, wie ein französischer Journalist. Der Deutsche liebt sein Vaterland wie irgend einer, und hätte er das Licht der Welt auf der Lüneburger Haide oder am Lechfeld erblickt, aber er muß immer ein Loch haben, wo er hinaus kann, und doch wird sein Hang zum In- der- Welt- promeniren" von dem Angelsachsen, namentlich aber von dem Skandinavier, zu Wasser und zu Lande übertroffen. Die Bemannung der russischen Flotte besteht zu sieben Zehntheilen aus Finnen, die freiwillig mehrere Kapitulationen dienen, und sehr selten Suomi ( das Sumpfland) wiedersehen. In Norwegen kenne ich Leute, deren Angehörige in allen Welttheilen zerstreut leben. Die Dalekarlier sind die Savoyarden Schwedens . Dafür gehören in Paris und Venedig Philister nicht zu den Seltenheiten, die das Weichbild der Stadt noch nie überschritten haben. Darum darf es dich, lieber Leser, nicht wundern, daß mancher Venetianer stirbt, ohne jemals ein Roß gesehen zu haben, die Bronzepferde der Markusfirche natürlich ausgenommen. Die sprüchwörtliche Faulheit der Türken ist in erster Linie Ursache der Schlappen, die ihnen die Montenegriner beibringen, welche nebst ihren Stammverwandten, den slovakischen Drahtbindern, zu den besten Fußgängern Europas gehören. Die Verbreitung der böhmischen Musikanten vom Aequa tor bis zu den Polen bringt mich glücklicherweise zur Frau Musica zurück, sonst wird diese penible Frau unwirsch und klagt, wie alle Damen von gewissen Jahren, über Vernachlässigung.
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Bei meinem Eintritt in den hell erleuchteten Speisesaal unterhielt sich das kosmopolitische Sammelsurium in jenem temperirten Mezzaforte, das nur ein wohlgedrillter Kulturmensch in allen Phasen der Unterhaltung mit Grazie festzuhalten vermag. Wessen Trommelfell jemals durch morraspielende Italiener insultirt worden ist, der wird die Wohlthaten einer ruhigen Konversation zu schätzen wissen. Ein glattgescheitelter Ganymed wies mir mit einem Seitenblick souveräner Verachtung auf meine beſtaubten Stiefel den einzigen leeren Platz zwischen einem mumifizirten greifswalder Professor und einem langhaarigen österreichischen Lyriker. Die Unterhaltung dieser beiden Herren war gut, aber die Mahlzeit war besser. Nachdem ich, um mit Büchner zu reden, die verlorene Kraft durch frischen Stoff ersetzt hatte, ließ ich vor meinen Blicken die nächste Umgebung Revue passiren, denn nach einer guten Mahlzeit ist jeder Mensch zu Beobachtungen vom objektiven Standpunkte disponirt. Mir gegenüber saß eine stattliche Frau, deren prägnante Persönlichkeit wie ein Adler unter Sperlingen von den sie umgebenden Alltagsmenschen abstach. Der fast männlich scharfe Umriß ihrer Gesichtszüge fesselte unwillkürlich und rief bei mir eine Reihenfolge schlummernder Erinnerungen wach. Kein Zweifel, es war der weltbekannte Kopf des dithyrambischen Klavierrhapsoden Liszt in weiblicher Ausgabe. Ein quecksilbernes Männchen mit ergrauten Haaren sette ihr, heftig gestikulirend, ein wahrscheinlich sehr interessantes Thema auseinander. Er schien garnicht zu bemerken, daß die Zunächst fißenden allmählich stille wurden, um seinen Worten zu lauschen. Der kleine Schlanke hat zwei mir bekannte Doppelgänger, die ihm aber schwerlich mehr Verwechslungsfatalitäten bereiten werden, weil sie seit vielen Jahrhunderten todt sind. Der eine figurirt laut Hieroglypheninschrift am Sarkophag als Leibarzt Seiner pharaonischen Majestät Psametich, des Soundsovielten unter den Mumien des British Museum in London , der andere unter den Kaiserbüsten der münchener Glyptothek. Man kann den Menschen bekanntlich am besten beobachten, wenn er nicht merkt, daß er beobachtet wird. So schweiften unbeirrt meine Blicke mit der Schärfe eines Detektives von seiner hochgewölbten Stirn zu der kräftigen, sich schwungvoll ausbreitenden Nase( siehe Judenthum in der Musik) und glitten an dem Backenbart à la Cavour zum energisch geformten Kinn. Nur der sächsische Anklang der Sprache wollte nicht zu dem Zauberwort passen, mit welchem er Eddas Sturmgewaltige Reden aus vieltausendjährigem Schlummer zu erneutem Leben erweckte. Ein strafender Blick, der den Pauken
schläger im„ Lohengrin " wie ein Medusenhaupt erstarren macht, aus seinen kleinen, aber ausdrucksvollen Augen machte auch meinem physiognomischen Kursus ein Ende. Doch Pardon ich habe dem Leser noch immer nicht gesagt, wer der bekannte Unbekannte war. Niemand Geringerer als Richard Wagner , dessen Schöpfungen einen so erbitterten Meinungskampf unter den Lebenden hervorgerufen, daß der zu den Wolken wirbelnde Perrückenstaub die Komponisten im Olymp niesen macht. Selbst das Heulen und Zähneklappern der im Höllenpfuhl schmorenden Kontrapunktisten soll durch eine zwei Takte währende Generalpause unterbrochen worden sein, als einige Teufelinnen das Hojotoho" anstimmten. Ich gehöre nicht zu Wagners Jüngern, die in verba magistri" schwören, doch auch nicht zu seinen fanatischen Gegnern, die das Kind mit dem Bade ausschütten, und zitire letzteren zur Beherzigung den Ausspruch eines gewissen Aristoteles, von dem ich verbürgen kann, daß er kein Wagnerianer war:" Die Musik ist nichts als ein verstärkter Genuß der Poesie. Sie hat die Aufgabe, in der Seete des Zuhörers das Gefühl und die Ideen zu erwecken, die geeignet sind, das vollständige Verständniß des poetischen Werkes zu erleichtern. Doch dieses bleibt der Mittelpunkt, um welchen alle Elemente der Ausführung sich gruppiren müssen." Selbst der in der Wolle gefärbte Antiwagnerianer, Herr Schletterer, muß mir beipflichten, daß Wagners deklamirter Gesang laut aristotelischer Direktive erfolgreich nach dem Jdeale ringt. Daß er die ergreifende Wirkung der Harmonie auf Kosten der melismatischen Cantilene pflegt, wird ihm wohl nur ein Laie zum Vorwurf machen. Der große Richard", der mit seltenem Stylgefühl für alles, mit Ausnahme des scherzenden Frohsinns, den richtigen Ton zu treffen weiß, der durch Leitmotive nicht nur Gefühle, sondern auch Gedanken auszudrücken vermag, schmälert zum eignen Schaden den Zauberklang des edelsten Instrumentes, der menschlichen Stimme, weil er sie nur zu oft dem Orchester unterordnet. Trotz alledem gleichen seine Werke, zur Seite gestellt den sterilen Produkten seiner Schüler ( mehr oder weniger sind es alle jungen Komponisten), blühenden Alpenmatten, umragt von Gletschern. Alpenmatten, umragt von Gletschern. Es ist absurd, den Beherrscher der musikalischen Situation einen Zukunftsmusiker zu nennen. Jeder Mensch wurzelt in seiner Zeit, und selbst dem Genialsten drückt sie ihr Gepräge auf.
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Der Dichterkomponist Wagner, der zu jenen Tiefen hinabstieg, wo die Forschung stille steht und nur die Boesie ihre Fackel zum Weiterschreiten bietet, ist und bleibt der Sohn seiner Zeit, die auf Dampfes Schwingen einherstürmt und, mit Blizen schreibend, die papierne Tuba der Reklame erdröhnen läßt, um die öffentliche Meinung, die stärkste Großmacht, zu leiten". Nur der gelbsüchtige Neid über seine Erfolge ist die Quelle des impotenten Gewinsels über den Verfall der Kunst und die Mißachtung ihrer Regeln, welches übrigens so alt ist wie das Gejammer der gleißnerischen Pfaffen aller Kulte über den Verfall der Sitten und die Zunahme des Lasters in der Welt.
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Der seinerzeit hochberühmte Hofkapellmeister des deutschen Kaisers Karl VI. , Johann Joseph Fur, flagte in seinem im Jahre 1725 erschienenen ,, Gradus ad Parnassum ", daß die Musik ein Gegenstand der Willkür geworden sei, daß die Komponisten sich an teine Vorschriften, an keine Lehre mehr halten und daß jie schon den Namen von Gesez und Schule wie den Tod ver abscheuen. Diese und ähnliche Gedanken schnurrten im Räderwerk meines Gehirnkastens, als ich die fünf Treppen zu meiner Mansarde hinaufstieg und raubten mir trotz förperlicher Ermüdung den Schlaf. Draußen heulte der Föhn durch das Schluchten gewirr, und große Regentropfen flatschten an die Fensterscheiben. Endlich senkte sich der Traum verwirrend auf meine Sinne. Die Erde sant, das Wasser schwoll, des Himmels Schleußen schienen geöffnet, um alles was da athmet zu ersäufen. Wie Riesenflossen ragten der Erde Hochgebirge aus der brandenden Fluth. Am steilgewundenen Apenninengrat, wie um die langgestreckten Binnentämme der Alpen und Pyrenäen krabbelte allerlei Musikantenvolk. In nebelgrauer Ferne saß am Hämus der Leiermann Orpheus und winkte dem Harfenisten David am Berge Zion. Da entstieg den sturmgepeitschten Wellen der göttlich maßvolle Raphael der Musik, Mozart , und streute Blüthen aus, die zum Himmel stiegen, um dort als Sterne zu glänzen. Vergebens flammerten sich zwei tadellos frisirte Stußer, Salieri und Dittersdorf, an sein wallendes Gewand. Mit flammendem Taktirstock stieß sie Gluck als Ritter Georg in ihr Wellengrab zurück und seine Donnerstimme rief aus Himmelshöhen:" Die ächte Kunst ist immer einfach und natürlich!" Auch mich drohte eine Sturzwelle in meiner