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Ueber die Vorzüge der Unwissenheit.

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Ein zeitgemäßer Vortrag.

Unsere Zeit, vielleicht die interessanteste, großartigste, die es je gegeben, die nach dem Ausspruche eines der berufensten Philosophen unserer Tage*) wie noch keine, alle geistigen und materiellen Bedingungen zu einer Wiedergeburt des gesammten Lebens vereinigt, unsere Zeit, sage ich, ist gleichwohl noch weit davon entfernt, gewisse Dinge, gewisse Verhältnisse, die von einer Seite vielfältigst ventilirt sein mögen, auch von der andern an­zusehen, gewisse Dinge überhaupt in Betracht zu ziehen, bis dann plöglich einmal ein so ungewöhnlicher Lichtstrahl auf sie fällt, daß er auch in unserem erleuchteten Zeitalter nur blendend wirken kann! Nach wie vor gilt Shakespeares Wort von den ,, verschiedenen Dingen zwischen Himmel und Erde, von denen sich die Schulweisheit nichts träumen läßt"... Gleichsam als Vor­bereitung zu meinem Thema möchte ich nur eines solchen Ver­hältnisses erwähnen wie z. B. die Häßlichkeit der Schönheit vorzuziehen sei. Wird man nun dies schon keineswegs zuzugeben geneigt sein, so dürfte wohl vollends tauben Ohren predigen, wer seine Stimme erhebt, um in einer Zeit, wo alles nach Bildung, Aufklärung, Wissenschaft" schreit, offen zu erklären, daß die Un­wissenheit gegenüber allem Wissen, aller Gelehrsamkeit ganz un geheuer im Vortheil sei! Mit der Häßlichkeit sieht es nicht so schlimm aus: sie ist von Dichtern und Gelehrten gebührend ge­würdigt worden:

Die Häßlichkeit ist unverführerisch,

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Das ist's gerade, was an ihr zu loben! Und der berühmteste Nachfolger Hegels, Karl Rosenkranz , hat sogar eine Aesthetik des Häßlichen" geschrieben, das heißt also zu deutsch : eine Wissenschaft vom Schönen" des Häßlichen. Ja, das Zigeunersprüchwort sagt geradezu: Häßlich ist schön, schön ist häßlich." Die Häßlichkeit mithin ist nicht so sehr ver­kannt, daß ich für sie eine Lanze zu brechen mich versucht fühlen könnte, wohl aber ist das mit der Unwissenheit der Fall! Und zwar trotzdem, daß sich zu ihrem Preise eine ungleich herrlichere Reihe von glänzendsten Citaten beibringen ließe.

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Nun bin ich zwar nichts weniger als ein Autoritätenanbeter, muthe daher auch niemandem zu, es zu sein und versuche nicht, auf diese Weise auf andere einzuwirken troß alledem aber er­trotz alledem aber er scheint es hier geboten, wenigstens die allerglänzendsten Namen und Aeußerungen Revue passiren zu lassen, denn wo alle die Größten und Besten übereinstimmen, da wird ihr Zeugniß aller dings zur überwältigenden Ueberzeugung. Die biblische Legende vom Sündenfalle" durch Adams Genuß vom Baume der Er­kenntniß"( auf der neu, d. i. wißbegierigen Eva Rath!) über­gehend, treffen wir zunächst auf den tragisch tönenden Ausspruch des weisen" Salomo :" Jemehr Wissen, umsomehr Qual; wer das Wissen zu vermehren trachtet, vermehrt nur den Schmerz." Die genial leichtlebigen Griechen mit ihrer schönen Phantasie ließen die Verstorbenen Lethe", d. i. Vergessenheit trinken und darin ihre Seligkeit bestehen! Selig durch das Vergessen irdischer Erlebnisse, irdischen Wissens! Und einer der weisesten Geister der klassischen Hellenenzeit, Sokrates , sagte: Ich weiß, daß ich nichts weiß," und galt und gilt ebendeswegen für einen der weisesten Köpfe! Sofrates war sozusagen der heidnische Christus; der wirkliche Christus aber hat gesprochen: Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich," wobei ich die grammatisch- logische Randglosse nicht für überflüssig halte, daß damit nur die Unwissenden, nicht etwa anderen Geistes Kinder gemeint sein können, denn es heißt: die Armen im Geiste", während es andernfalls Arme an Geist" heißen müßte; arm im Geiste" ist aber derjenige, in dessen Geist wenig oder nichts ent­halten ist, d. i. eben der Unwissende.

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So das Alterhum. Im Mittelalter schweigen die Quellen, wohl deshalb, weil dasselbe gleichsam aus einer einzigen großen Unwissenheit bestand, daher kein feindlicher Gegensatz gegen sie vorhanden war. Die neueren und neuesten Zeiten aber haben die schärfsten Verdikte über das Wissen, zu Gunsten der Unwissen heit, die um so reicher fließen und brillanter werden, je höher das Wissen steigt und sich ausbreitet. Der Salomonische Grund­gedanfe flingt noch wider in dem englischen in much learning

is much sorrow"( in vielem Wissen steckt viel Sorge) und in Forteguerri's oder vielmehr Ricciardetti's

Che chi aggiunge sapere, aggiunge affanno, E men si dolgon quelli che men sanno*), was in der Form ,, chi men sa men si duole"( wer weniger weiß, hat weniger Schmerz) sogar in den italienischen Volksmund übergegangen ist. Um indessen nicht weitschweifig zu werden, aus der ausländischen Literatur nur noch zwei durchaus nicht miß­zuverstehende Ditta Molière's, bevor wir zu den großen, wucht­vollen Wahrsprüchen der eigenen Nationalliteratur übergehen; nämlich: Die Wissenschaft hat schon manchen großen Dummtopf geschaffen" und: Ein gelehrter Dummkopf ist viel dümmer noch als ein unwissender."

Die Deutschen aber nun, das bekannte Volk der Denker", haben auch über das Wesen der Unwissenheit tief gedacht, und nur die hervorragendsten diesbezüglichen Aeußerungen können hier berücksichtigt werden. Der ausgezeichnete, scharfsinnige G. Chr. Lichtenberg, einer der ächtesten Klassiker deutscher Prosa, schreibt: Wenn ich die Genealogie der Dame Wissenschaft recht kenne, so ist die Unwissenheit ihre ältere Schwester; und ist denn das etwas so Himmelschreiendes, die ältere Schwester zu nehmen, wenn einem die jüngere auch zu Befehl steht? Von allen, die sie gekannt haben, habe ich gehört, daß die ältere ihre eigenen Reize habe, daß sie ein fettes, gutes Mädchen ist, die eben deswegen, weil sie mehr schläft als wacht, eine vortreffliche Gattin abgibt." Auch diese Stelle bedarf wohl keines Kommentars. Kant, der große Grundsteinleger der deutschen nicht nur, sondern der wahrhaft modernen Philosophie überhaupt, läßt sich also vernehmen: Der Unwissende hat ein Vorurtheil für die Gelehrsamkeit, der Gelehrte eines für den einfachen Verstand."( Daß unter dem einfachen" Verstand hier nur der nichtgelehrte, also der unwissende, gemeint sein könne, geht aus der Form des Gegensazes mit zwingender Gewalt hervor.) In geistsprühender Fassung sagt Friedr. v. Sallet, ein feinsinniger Autor: Glaube nicht, daß Reichthum an Gedanken den Menschen groß und weise mache.... Der kräftige Geist vertilgt sie, indem er in vielen nur eins sieht. So schreitet er fort und wird reich durch immer größere Armuth an Gedanken" ( Kontraste und Paradoren"). Das Bedeutsamste aber äußert Goethe, dieser universelle Genius. Drei Stellen sind es, deren zwei in der Krone seiner Schöpfungen", int" Faust", sich finden. Bekanntlich beginnt diese gigantische Dichtung mit folgenden Worten:

Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und, leider! auch Theologie

Durchaus studirt, mit heißem Bemüh'n. Da steh' ich nun, ich armer Thor! Und bin so klug, als wie zuvor;

Und sehe, daß wir nichts wissen können!

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Wenn dies nicht Folianten spricht, zum mindesten alle die­jenigen, die Faust studirt zu haben behauptet mun, dann weiß ich wahrhaftig nicht!...

Die zweite Stelle ist folgende:

Wagner.

Allein die Welt! Des Menschen Herz und Geist! Möcht' jeglicher doch was davon erkennen.

Faust.

Ja, was man so ,, erkennen" heißt! Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen? Die wenigen, die was davon erkannt,

Die thöricht g'nug ihr volles Herz nicht wahrten, Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, Hat man von je gekreuzigt und verbrannt. Nun, wahrlich! Sieht man da die Schädlichkeit des Wissens, den Segen der Unwissenheit ein?!...

Die dritte Stelle endlich ist in Prosa, aber vielleicht die aller­

*) Deutsch etwa:

*) Friedr. Alb. Lange, der leider zu früh verstorbene Verf. der Nur Leid und Kummer erntest du, erweiterst du dein Wissen; ,, Geschichte und Kritik des Materialismus.

Wer wenig weiß, fühlt weniger von Pein und Weh sein Herz zerrissen.