sie es auch noch zu keinem Fremden ausgesprochen hatten, doch nur vom Bankerott hatten retten müssen, um selbst in eine Situation zu kommen, die trotz aller Anstrengungen von Saison zu Saison schlechter und unhaltbarer geworden war.
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Dem schlauen Juristen wirbelte der Kopf vor Einfällen und Gedankenkombinationen der seltsamsten Art, als er wieder in den Saal getreten war. Und sein Mißtrauen gegen seinen Freund Schweder verscheuchte das leicht malitiöse Lächeln keineswegs, welches um Schweders Lippen schwebte, als dieser seiner ansichtig
wurde.
Der Mann war gefährlich als Feind, vielleicht noch gefährlicher aber als Freund. Wichtel war entschlossen, ihn als Feind zu behandeln, sobald er ihm bei Wanda in den Weg treten sollte, und er war auch entschlossen, es heute noch bei Wanda zu einer Erklärung zu treiben.
Solange die Gesellschaft in Waltersdorf verweilte, ward ihm dazu keine Gelegenheit. Bis zum Beginn der Christbescheerung blieb Wanda so eifrig und unausgesetzt mit den Vorbereitungen beschäftigt, daß sie sich nicht einmal Zeit zur Mittagsmahlzeit gönnte. Sie begnügte sich mit einer Tasse Chokolade und einigen Stücken Backwerk, die sie ohne Aufenthalt bei ihrer Thätigkeit zu genießen vermochte. Der Herr Doktor Wichtel erhob ihr Samariterthum, wie er es nannte, bis in den Himmel und war anscheinend wenigstens nicht minder enthaltsam als sie. Auch er betheiligte sich an dem improvisirten, aber darum doch feineswegs besonders bescheidenen Diner der übrigen nicht, oder doch nur auf wenige furze Augenblicke, trant aber statt Chokolade Wein und aß statt Backwerk einen Gänseflügel, der allerdings groß genug war, um allein schon einen recht gesunden Appetit zu befriedigen.
Die anderen Herren, auch der alte Herr Klose und die Frau Doktor Winter, ließen es sich dagegen trefflich schmecken. Schweder, der bisher Wanda gegenüber bei seinem liebenswürdigen, aber äußerst ruhigen Entgegenkommen verharrt hatte, welches weit entfernt war von jener aufdringlichen Vertraulich keit, die ihr schon so oft bei dem jungen Wichtel unangenehm geworden, unterhielt sich während der Mahlzeit eifrig mit Herrn Alster über den Weiterbau der Eisenbahn, die die Gegend, in der sie sich befanden, ziemlich in der Nähe von Waltersdorf passiren sollte.
Herr Alster meinte, es werde sich schwerlich der ganze Bau, wie er ursprünglich projektirt gewesen, durchseßen lassen. „ Wenn sich nun aber herausstellt, daß derselbe ein wirklich zwingendes Bedürfniß ist?" fragte Schweder.
Wie meinen Sie das?"
" Ich meine, die Eisenbahngesellschaft würde eine zwingende, moralische Verpflichtung fühlen müssen und auch eine Garantie des materiellen Erfolgs darin sehen, wenn hier oben jede Stadt, jedes Dorf, die gesammte Bevölkerung nach dem völligen Aus bau der Gebirgsbahn verlangt."
Alster, der bisher nachdenklich vor sich hingesehen hatte, schaute auf:„ Dann allerdings
"
" Und warum sollte das nothleidende Volk hier oben nicht Arbeit und Verkehr, wie sie der Bau und der Betrieb einer Bahn mit sich bringt, lebhaft herbeiwünschen, ja, warum sollte es nicht gewissermaßen ein Recht haben, das Recht der Noth, solche Arbeit gebieterisch zu verlangen?"
" Bedenklich, sehr bedenklich, solch ein Recht zuzugeben, bester Freund..."
"
„ Nun gut, geben wir das Recht nicht zu, das Recht, zu fordern, aber das Recht, ein Bedürfniß zu äußern, wird niemand bestreiten können."
" Sie sind also der Ansicht
"
Schweder warf einen Blick nach dem alten Klose. Dieser war in eifrigem Gespräch mit der Frau Doktor, der er über den Ursprung und die Feier des Weihnachtsfestes bei den verschiedenen Völkern einen gelehrten Vortrag hielt.
" Ich bin der Ansicht," erwiderte Schweder,„ daß es ein Leichtes ist, hier in der ganzen Gegend eine Bewegung zu erzeugen oder zu erwecken, zu dem Zwecke, die Realisirung des Bahnbauprojekts von unsrer Eisenbahngesellschaft durch den Druck der öffentlichen Meinung gewissermaßen zu erzwingen."
" Das wäre allerdings ausgezeichnet," rief Alster, weit lebhafter als zuvor.„ Aber wie soll das geschehen, wer. ၈ ။ " Wenn Sie damit einverstanden sind, verehrter Herr Alster , würde ich Sie um nichts weiter bitten, als daß Sie mir völlig freie Hand lassen. Daß ich nicht der Mann bin, welcher bei
einer derartigen Angelegenheit irgend jemanden kompromittirt, wissen Sie. Unsere Interessen gehen Hand in Hand und sind Hand in Hand gegangen, solange ich die Ehre habe, Sie zu fennen."
Alster nickte. Zwar hatte er vor garnicht langer Zeit noch ein lebhaftes Mißtrauen gegen Schweder zu empfinden begonnen, aber die Haltung des Tageskorrespondenten" hatte im allgemeinen so sehr übereingestimmt mit dem, was er soeben geäußert, daß Alster von Schweders Aufrichtigkeit in diesem Falle durchaus überzeugt war.
" Sie glauben also sicher zu sein, daß solch' eine, unseren Zwecken ungemein förderliche Bewegung baldigst in den Fluß kommt?"
" Ich garantire dafür."
Die beiden Herren griffen fast gleichzeitig nach den Weingläsern und stießen mit einander an. Kurz darauf hob Herr Alster die Tafel auf und schlug der Frau Doktor und Schweder eine gemeinschaftliche kurze Schlittenspazierfahrt vor. Schweder zeigte sich einen Augenblick schwankend und bemühte sich, Wanda zur Theilnahme zu bewegen. Dieselbe bedürfe dringend einer Erholung, meinte er, ihre ununterbrochene Thätigkeit greife sie zu sehr an, und was etwa noch vor Beginn der Bescheerung gethan werden müßte, das würde Freund Wichtel unter der bewährten Oberleitung des Herrn Klose schon fertig bringen. Wenn Schweder furchtsam gewesen wäre, so hätte ihn das böse Gesicht seines Freundes Wichtel, als dieser ihn so reden hörte, erschrecken können. Aber der lächelte nur, obwohl er das Anschwellen der Zornesader auf Wichtels Stirn sehr wohl bemerkt hatte, und nahm auch die für seine Aufmerksamkeit freundlich dankende Ablehnung Wandas ohne merkliche Bewegung hin.
Als die Herren Alster und Schweder mit der Frau Doktor von ihrer Spazierfahrt nach beinahe zweistündiger Abwesenheit zurückgekehrt waren, sollte die Bescheerung eben beginnen. Der ganze große Hof des Gasthauses hatte sich mit Kindern gefüllt. Es herrschte eine ungeheure Aufregung unter ihnen. Auch Mütter, Väter und andere Anverwandte, welche als Führer der Kleinsten unter den Kleinen erschienen waren, konnten das Zeichen, welches den Beginn ihres Christfestes ankündigen sollte, kaum erwarten.
Endlich öffnete sich die Saalthüre, eine Glocke läutete und der im Glanz von mehr als hundert brennenden Wachslichtern strahlende Riesenchristbaum ergoß blendende Helle in die weite, nur von einer ärmlichen Dellampe spärlich beleuchtete Hausflur.
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Ein Schrei der Bewunderung entrang sich dem Munde der Kinder. Diejenigen, welche dicht an der Thür gestanden hatten, zum Hineindrängen in den Saal bereit, prallten jetzt zurück, sie wären am liebsten davongelaufen, so verlegen und bestürzt fühlten sie sich all' der Pracht und dem Glanze gegenüber, die ihnen so plößlich entgegenstrahlte. Aber sie konnten nicht zurück mußten sogar vorwärts mit rapider Schnelligkeit hinein in den wohlbekannten Tanzsaal, der ihnen jetzt wie das Innere eines Feenpalastes erschien, denn die anderen hinter ihnen, und am meisten die, welche nicht einmal mehr in die Hausflur hineingekonnt und sich an der Hofthür herumgedrängt und gestoßen hatten, schoben sie mit unwiderstehlicher Gewalt vor. In einem Nu war der Saal gefüllt. Wieder läutete die Glocke. Es galt, das brausende Meer der Bewunderungslaute, in denen sich die Aufregung der Kinder äußerte, zu einer kurzen Ruhe zu bringen.
Nachdem das endlich mit vieler Mühe gelungen war, erhob der Ortsschullehrer seine Stimme und begann die Namen der Kinder zu verlesen. Die Aufgerufenen mußten antworten, um zu dem Plaze gewiesen zu werden, wo für jedes einzelne die Geschenke aufgebaut waren.
Es war ein tüchtiges Stück Arbeit, welches der Herr Lehrer zu verrichten hatte, denn trotzdem die Glocke immer wieder in Bewegung gesezt wurde, war doch an soviel Ruhe nicht zu denken, daß sein an das Uebertäuben tumultuirender Stimmen gewöhntes Sprachorgan ohne die größte Anstrengung durchzudringen vermochte.
Einer nicht weniger angreifenden, wenn auch viel weniger lärmenden Beschäftigung als der Schullehrer befleißigte sich der alte Herr Klose, der strahlenden Auges umhereilte, um die schüchternen Zweifel der einen zu heben, ob all' die schönen Sachen auch wirklich ihnen gehören würden, und um die kleinen Zwistigkeiten der andern um das Besitzrecht von Pfefferkuchen, Nüssen u. dgl., die zufällig auf die Erde gefallen oder auf sonst ein neutrales Gebiet gerathen waren, zu allseitiger Befriedigung zu schlichten.