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Ueber die Gesetze, denen der Fortschritt der Civilisation unterworfen ist.

( Fortsetzung.)

Zunächst haben wir die natürlichen Bedingungen zu unter­suchen, welche durch Beförderung eines sehr raschen Zuwachses der Bevölkerung ein übergroßes Angebot von Arbeit auf den Markt bringen und so die durchschnittliche Höhe des Arbeits­lohnes niederhalten.

In dieser Beziehung ist der Einfluß der Nahrungsmittel der wirksamste und allgemeinste. Wenn zwei, sonst in jeder Hinsicht gleiche Länder nur hierin sich unterscheiden, daß in dem einen die gewöhnlichen Nahrungsmittel im Ueberfluß, in dem andern nur spärlich vorhanden sind, so wird die Bevölkerung in dem ersteren nothwendig schneller zunehmen, als in dem letzteren; infolge dessen wird auch der durchschnittliche Stand des Lohnes in dem ersteren niedriger sein, als in dem letzteren.

Die Nahrung bringt zwei Wirkungen hervor: 1) sie unter hält die thierische Wärme und 2) ersetzt sie den Abgang, der fortwährend in dem körperlichen Mechanismus stattfindet. Jedem dieser Zwecke dient eine besondere Nahrung; die Temperatur unseres Körpers wird durch stickstoff lose Substanzen erhalten, der fortwährende Abgang wird ersetzt durch stickstoff haltige. In einem heißern Klima brauchen die Menschen weniger stickstoff­freie Nahrung, weil sich die thierische Wärme dort leichter er­halten läßt, sie brauchen aber auch weniger stickstoffhaltige Nah­rung, weil sie im ganzen weniger körperliche Anstrengungen nöthig haben und deshalb ihr Bellgewebe sich weniger schnell aufreibt; hieraus folgt nothwendig eine raschere Zunahme der Bevölkerung in heißen, als in kalten Gegenden.

Es ist nämlich einerlei, ob die größere Menge der Nahrung, wovon ein Volk lebt, durch größeren Vorrath oder durch ge­ringeren Verbrauch entsteht, denn in letzterem Falle wird dieselbe Menge von Nahrung weiter reichen und die Menschen in Stand sezen, sich schneller zu vermehren, als in einem tälteren Klima, wo die gleiche Menge von Lebensmitteln schneller aufgezehrt wird. In kälteren Gegenden müssen die Menschen aber nicht nur mehr essen, als in heißen, sondern ihre Nahrung ist auch theurer, d. H. schwerer zu erlangen. Je kälter nämlich ein Land ist, desto mehr Kohlenstoff muß die dortige Nahrung enthalten; die Früchte des Bodens sind ohne Gefahr und ohne große Mühe zu erlangen, die kohlenstoffhaltige Nahrung dagegen, welche im Norden zum Leben unumgänglich nothwendig ist, erzeugt sich nicht so leicht und bietet sich nicht von selbst dar, sondern sie besteht aus dem Fett, dem Speck und dem Thran starker und wilder Thiere und wird nur mit Mühe und unter Gefahr und Anstrengung erlangt. Die Folge war, daß bei nördlichern Völkern im allgemeinen ein kühnerer und abenteuerlicherer Charakter entwickelt wurde, als bei südlicheren Völkern, deren Nahrung leichter zu erhalten war.

Wie wir gefunden haben, steigt oder sinkt der Arbeitslohn mit der Bevölkerung, diese selbst steigt und fällt mit dem Vor­rath der Nahrung, sie steigt bei reichlichem Vorrath, steht still oder geht zurück bei dürftigem. Die nöthigen Lebensmittel sind in falten Gegenden nicht nur spärlicher, sondern man braucht auch mehr, als in heißen, sodaß die Bevölkerung, aus deren Reihen der Arbeitsmarkt sich füllt, langsamer sich vermehrt; in heißen Gegenden ist daher immer eine Tendenz zu niedrigen, in falten zu hohen Löhnen. Die alte Civilisation hatte ihren Siz immer in heißen Klimaten, überall war der Lohn sehr niedrig und der Zustand der arbeitenden Klassen sehr gedrückt. In Europa entstand zuerst eine Civilisation in einem fälteren Klima und wurde durch den höheren Lohn die Vertheilung des Reich­thums etwas mehr ausgeglichen, als es in Gegenden möglich war, wo ein großer Ueberfluß von Nahrungsmitteln das Wachs thum der Bevölkerung beförderte.

Wenn wir somit finden, daß unter sonst gleichen Umständen die Nahrung eines Volkes seine Zahl erhöht und die Vergrößerung seiner Zahl den Stand seines Arbeitslohns bestimmt; wenn wir finden, daß bei stetem niedrigen Lohn und infolge dessen sehr ungleicher Vertheilung des Reichthums auch die Vertheilung der politischen Macht sehr ungleich sein wird, so wird sich zeigen, daß das durchschnittliche Verhältniß zwischen den höheren und niederen Klassen ursprünglich von den besprochenen natürlichen Eigen thümlichkeiten abhängt. Fassen wir alles dies zusammen, so werden wir den innigen Zusammenhang zwischen der physischen

und moralischen Welt erkennen; ebenso die Geseze, unter denen dieser Zusammenhang steht und die Ursachen, warum manche alte Kulturen in Verfall geriethen, indem sie nicht vermochten, dem Druck der Natur zu widerstehen oder den äußeren Hinder­nissen, die ihren Fortschritt aufhielten, die Stirn zu bieten. Wenden wir uns zuerst nach Asien , so bietet Indien ein sehr gutes Beispiel, um diese Gesetze zu verdeutlichen, welche durch die Geschichte vollständig bestätigt werden. Von den frühesten Zeiten an war die gewöhnlichste Nahrung dort der Reis, eine Frucht, welche einen wenigstens sechzigfachen Ertrag gewährt; infolge dieser reichlichen Nahrungsquelle war der Arbeitsmarkt immer übervoll, weshalb wir vor zwei bis dreitausend Jahren die oberen Klassen ungeheuer reich sehen, die niederen unter dem Druck der bittersten Armuth, nur von der Hand in den Mund lebend und daher immer in einem Zustand der Dummheit und Erniedrigung, durch unausgesetztes Unglück gebrochen, vor ihren Oberherren in der verächtlichsten Unterwürfigkeit friechend, und nur geschaffen, um entweder selbst Sklaven zu sein oder um in den Krieg geführt zu werden und andere zu Sklaven zu machen. Ueberall reizt Armuth zur Verachtung und gibt Reichthum Macht; und da es keinen Fall in der Geschichte gibt, daß eine Klasse Macht besessen und sie nicht mißbraucht hätte, so ist es leicht erklärlich, wie es kam, daß die Indier, durch die physischen Geseze ihres Klimas zur Armuth verdammt, in eine Erniedrigung ver­sunken sind, aus der sie sich nie haben erheben können. Ueberall, wo diese Gesetze der Natur wirksam waren, haben sie die arbei­tenden Klassen in beständiger Unterwerfung gehalten. In allen Fällen, da die Hize des Klimas einen Ueberfluß der Nahrung und dieser Ueberfluß eine ungleiche Vertheilung zuerst des Reich­thums, dann der politischen und sozialen Macht erzeugt, hat das Bolt nichts gegolten; es hat keine Stimme in der Verwaltung des Staates, keine Aufsicht über den Reichthum gehabt, den sein eigener Fleiß geschaffen. Sein einziges Geschäft war, zu arbeiten, seine einzige Pflicht, zu gehorchen. So hat sich jene Gewohnheit zahmer, knechtischer Unterwerfung erzeugt, welche die asiatischen Völker von jeher charakterisirte. Wir kennen kein Beispiel, daß sich diese Völker gegen ihre Unterdrücker wendeten, wir finden keinen Klassenkampf, keine Volksaufstände, nicht einmal irgendeine große Verschwörung; es hat Kriege der Könige und Kriege der Dynastien genug gegeben; es sind Revolutionen in der Regie­rung, im Palast, auf dem Thron vorgekommen, aber keine Re­volution im Volk.

In Europa kommen andere physische Geseze ins Spiel, welche auch andere Wirkungen hervorbrachten; hier entstand zuerst die Neigung, jenes ungeheure Mißverhältniß von Reichthum und Macht auszugleichen, an welchem die größten und ältesten Reiche zugrunde gegangen sind; hier allein wurden Versuche gemacht, das Gleichgewicht in dem Verhältnisse seiner Theile zu erhalten und die Gesellschaft nach einem Plane zu ordnen, umfassend genug, um alle ihre Mitglieder einzuschließen und so dadurch, daß für den Fortschritt jedes einzelnen Raum bleibt, die Dauer und den Fortschritt des Ganzen zu sichern.

Wie die indische, so wurde auch die ägyptische Civilisation durch die Fruchtbarkeit des Bodens herbeigeführt, die Nahrung ist ebenfalls wohlfeil und im Ueberfluß vorhanden, daher der Arbeitsmarkt überfüllt, eine sehr ungleiche Vertheilung des Reich­thums und der Gewalt und daher alle die Folgen, welche eine Die Haupt­solche Ungleichheit unvermeidlich nach sich zieht. nahrung ist die Dattel, welche wenig Arbeit erfordert und eine reiche Ernte gibt, es wachsen bis 200 und mehr Dattelpalmen auf einem Morgen Landes; die Bevölkerung konnte sich rasch vermehren, und nach Herodot war Aegypten das bevölkertste Land der Erde. Der bloße Anblick der mächtigen und kost­spieligen Banten, welche noch vorhanden sind, zeugt aber für den Zustand der Nation, welche sie errichtete; so ungeheure und doch so nußlose Bauwerke aufzuführen, dazu mußten die Herrscher Tyrannen und das Volk in Sklaverei sein. Kein noch so großer Reichthum, kein noch so verschwenderischer Aufwand wären im stande, die Kosten zu decken, welche es verursacht haben würde, wenn sie das Werk freier Männer gewesen wären, die für ihre Arbeit angemessen bezahlt worden wären. In Aegypten wie in Indien lief eben alles darauf hinaus, die oberen Klassen zu be­