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Straßen, wie ihre Ursache auch nicht blos das Edelgestein und Edel­metall ist, mit welchem die Wege in den fraglichen Sphären gepflastert zu sein pflegen, aber das ordinäre Pflastergepolter ist eine der gewich tigeren Ursachen davon, und es gibt uns allen Grund, Tag und Nacht auf Abhülfe zu sinnen und energische Maßregeln dazu zu ergreifen. Also mit den Fabriken möglichst ganz fort aus der Nachbarschaft mensch licher Wohnungen und mit dem ohren wie schuhsohlen, nerven- wie wagenräderstrapazirenden Steinpflaster fort aus den Städten. Die Leser werden zu fragen geneigt sein, ob hier nicht auch ein Wort ein­zulegen am Plage wäre für Ohren und Nerven der Fabrikarbeiter, die dem Höllenspektakel ihrer Werkstattumgebung ja viel näher, als die nichtfabrikarbeitenden Nachbarn sind und ihm noch viel weniger zu entrinnen vermögen. Sie haben nicht ganz unrecht, aber für die Sinnesorgane der Fabrikarbeiter dürfte die von Reklam erwähnte That­sache der Gewöhnung an unausgesezt hörbare Geräusche in Kraft treten. Bei der Arbeit selbst nehmen die außerhalb wenig oder garnicht wahr nehmbaren schwächeren Geräusche die Gehörwerkzeuge gefangen und stumpfen ihre Empfindlichkeit wohl auch gegen die zeitweilig stärkeren in hohem Grade ab; die Fabrikarbeiter haben nicht nöthig, ihre Ge­danken auf Ideenkreise zu konzentriren, die mit der Ursprungsstätte des Spektakels und der Fabrik garnichts zu schaffen haben, das sind Vortheile, welche sie vor den Bewohnern der Nachbargebäude offenbar voraus haben, welche aber noch keineswegs die Nothwendigkeit wissen schaftlicher Untersuchung ausschließen, inwieweit auch des Fabrikarbeiters Nervensystem und seine Gesundheit im allgemeinen unter dem Fabrik­spektakel leidet und auf welche Weise ihm etwa Abhülfe und Schutz ge­bracht werden könnte.

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Die Mysterienspiele des Mittelalters und das Oberammer gauer Passionsspiel.  ( Bild Seite 400-401.) Im Sommer des Jahres 1880 wird das Leiden Christi" in Oberammergau  ( Bayern  ) gefeiert. Friedliche Landleute haben in ihren Bergen, ungehindert von der allzerstörenden Kultur, das Passionsspiel des Mittelalters bewahrt und vervollkommnet. Es ist der Zweck des vorliegenden Aussages, den Gang der Entwickelung dieser dramatischen Darstellun­gen aus der römischen Welt in die der anderen Kulturvölker, nament­lich der Germanen, zu verfolgen und jene traurige Epoche der Schau­spielkunst zu schildern, in welcher sie sich noch nicht des Vortheils der Befreiung von dem Gewissensdruck der Pfaffen erfreute. römische Luxus und das Schaugepränge seiner kirchlichen und theatra­lischen Aufzüge ging nach der Zerstörung des Reiches durch innere Fäulniß und äußeren Anprall der Völkerwanderung nicht völlig zu Grunde, sondern wurde vielmehr von den germanischen Erben Roms, sowohl in der Metropole wie in den Provinzen nachgeäfft. Die blu­tigen Fechterspiele wurden in Arles   und Nimes   von den Galliern und in Trier   von den Franken Jahrhunderte lang nach dem Falle Roms gepflegt. Das Antike sollte aber auch in anderer Weise konservirt wer­den. Der Menschengeist muß nämlich beständig eine Lösung des Welt­räthsels suchen, und jede Lösung des Welträthsels muß beständig schei tern, sodaß er gleich dem Eichhörnchen im Rade nicht weiter kommt. Nachdem sich die Verherrlichung der gesteigerten Genußfähigkeit, in welcher sich die antiken Dichter und Philosophen so wohlgefielen, über­lebt hatte, versuchten es die neuen christlichen Volksbeglücker mit der Entsagungstheorie. Sie gossen aber neuen Saft in alte Schläuche, denn trotz der Feindschaft des entsagenden" Christenthums gegen das " genießende" Heidenthum ward das Theater der Alten als Propa­ganda für das Christenthum benußt. Der Kirchenvater Gregor von Nazianz   verfertigte 400 Jahre nach Christi Geburt   mit Zuhülfenahme der griechischen Dichter Euripides   und Aeschylos   sein Mysterienstück Das Leiden Christi". Mysterien wurden derartige Stücke genannt, weil ihre Sprache, die lateinische, den Laien, dem Volk, unverständlich war. Sie wurden in der Kirche gespielt und bildeten Theile des Gottes­dienstes, der durch den Heiligenkultus auch allmählich wieder heidnisch wurde. Der Hochaltar mit seinen Seitenthüren und die Krypta( Gruft) gaben ein dem griechischen ähnliches Theater. Wechselgespräche und Wechselgefänge, Responsorien und Antiphonarien, heute noch des Haupt­bestandtheil der katholischen Liturgie, bildeten ihre Form. Sie begannen um Mitternacht  ; das mystische Dunkel stellte gleichsam die Heidenzeit und die Zeit vor Christo dar, die Morgenzeit fiel mit der Geburt Christi   zusammen, die Mittagszeit des andern Tages konnte die Abend­mahlzeit darstellen. Daraus erhellt, daß unsere frommen Vorfahren starke Nerven haben mußten, um eine heilige" Tetralogie à la Richard Wagner   über sich ergehen zu lassen. Ob in den Zwischenatten Würste und Bier verabreicht wurden, wie heute in Oberammergau  , haben uns die Chronisten jener längst entschwundenen Tage zu melden verabsäumt.

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Die vollständige zwölfstündige Litanei ward in die Stücke aufgenom men, gewissermaßen eine Nachbildung des Chores der Griechen. Diese langstieligen dramatischen Genüsse wurden nur an Sonn- und Festtagen aufgetischt, damit das steuerpflichtige Volt nicht von der Arbeit ab­gehalten wurde. Am Osterfeste ward die Auferstehung Christi   von Brieſtern in der Kirche dargestellt, am Pfingstfeste die Offenbarung des heiligen Geistes, an einem andern der bethlehemitische Kindermord, Weihnachten brachte die Hirten und Engel, Epiphanias das Dreikönig­spiel, noch heute in vielen katholischen Gegenden von Kindern vor­geführt. Bald ließ das Bedürfniß des besseren Verständnisses die latei­nische in die deutsche Sprache verwandeln, doch so, daß das Geſungene lateinisch, das Gesprochene deutsch   ausgedrückt ward. Von dem ,, myste­riösen" Brimborium fonnte man sich aber doch nicht ganz emanzipiren, der Titel des Stückes und die technischen Bezeichnungen blieben latei­nisch; es haben sich solche bis auf die neueste Zeit auf der Bühne aller Kulturvölfer erhalten. Beweis davon die internationalen Ausdrücke Aktus und Szene. Die Nachahmung der griechischen Bühne in der christlichen Kirche nahm mit der Zeit immer größere Verhältnisse an, der dreithürige Hochaltar wird gleich der Szenenwand, Stufen rechts und links führen zur Kirche wie in die hellenische Orchestra; der Chor befindet sich oben gleich dem Theologeion der Griechen. Die Osterspiele bildeten sich auf breiterer, doch immer mehr profaner( weltlicher) Basis aus. Die ritualen Textstellen wurden zwar noch immer lateinisch ge­sungen, wurden aber immer mehr von dem deutsch   gesprochenen Wort verdrängt. Der eigenthümliche Geist des deutschen Volkes ,,, der keine Sonderung der Gattung zuließ", und immer mehr die römischen Fes­seln abstreifte, brachte aber bald die ihm charakteristische würzige Laune in das Schauspiel. Es erscheinen Boten, Wächter in verzerrter Weise. Vor allem der Teufel mit Pferdefuß und Schwanz, eine Erinnerung an die Dionysosfeste, später die Personifikation des Volkswizes, Hans­wurst genannt. Alles zu seiner Zeit! Respekt vor dem später so ver­pönten Hanswurst. Seine derben Späße haben die lateinischen Hei­ligen von der deutschen   Bühne vertrieben. In dieser Fassung konnte der Klerus das Schauspiel in der Kirche nicht mehr dulden und so ward es nun auf einer öffentlichen Schaubühne mit einem Loche im Hintergrunde als Hölle und einem Holze, Zinne genannt, als Himmel, über dem Theater dargestellt. Man konnte auf sie das Goethe'sche Wort anwenden: Vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Frankreich  , welches seit jeher ein besonderes Geschick zum Theaterspielen hatte, ging allen anderen Ländern Europas   mit dem Beispiel voran, den rituellen Inhalt der Mysterien auf dramatischer Grundlage zu verbreitern und die eingeschobenen Volksfiguren immer weltlicher agiren zu lassen. Bei den schmalen Straßen und beschränkten Pläßen der Städte des Mittel­alters mußte man bei Errichtung des Bühnenbaues die geräumigen Kirchhöfe oder Klosterhöfe ins Auge fassen, weil wegen der Unsicherheit ein Bauplatz außerhalb der Stadtmauer gar nicht in Betracht kam. Den Franzosen  , welche die Dreitheilung der Bühne am entwickeltesten durchführten, dienten die alten römischen Theater zum Vorbilde. Das heutige südliche Frankreich  , damals die souveräne Provence, ist die Heimat der Passionsspiele, welche von hier aus ihren Weg nach der pyrenäischen und apenninischen Halbinsel, nach Deutschland   und Eng­land, ja selbst nach Skandinavien   nahmen. In jedem Lande modelte sich der Zuschnitt der Mysterien nach dem Volkscharakter. Während z. B. ,, Das Leiden Christi" in Spanien   unverfälscht blieb und Aus­schreitungen des Fanatismus herbeiführte, die nicht selten Reßern und Ungläubigen das Leben kosteten, wurde in Frankreich   der biblische Stoff immer mehr mit zeitgemäßen Verzierungen umrankt, welche schließlich dem leichtlebigen Bölkchen zur Hauptsache wurden. Die Veranstalter der heiligen Komödien", unter welchem Titel diese sonderbaren Dramen im fünfzehnten Jahrhundert bekannt waren, sind seit den frühesten Zeiten die Dominikanermönche   gewesen. Diese fahrenden Prediger, Ablaßkrämer und Schauspieler zogen mit ihrem Troß von Land zu Land, von Ort zu Ort, und schlugen ihre dreitheilige Bühne in Deutsch­ land   zuerst in Eisenach   auf. Das Jahr dieser Theatervorstellung hat uns die Geschichte leider nicht aufbewahrt. Im Jahr 1492 folgten diesem Beispiel die Schüler des St. Bartholomäusstiftes auf dem Lieb­frauenberg in Frankfurt am Main  . Der gewissenhafte Chroniſt der ehrsamen Stadt Frankfurt   hat uns den Namen des rührenden" Myste riums aufbewahrt; es hieß die Geschichte von den klugen und thö­richten Jungfrauen" und war von Frankreich   importirt. Freie und Hörige, Pfaffen und Laien strömten herbei, um die klugen und thörichten Jungfrauen agiren zu sehen. Seit Hussens Verbrennung in Konstanz  ( 1415) hat man nicht so ein lustiges Treiben gesehen, behauptet die naive Stadtchronik. Zugleich erzählt sie, daß die Fürbitte der Maria für die thörichten Jungfrauen auf den Landgrafen von Thüringen   einen solchen Eindruck machte, daß er an den Folgen starb.( Schluß folgt.)

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Inhalt. Jdealisten, von Rudolf Lavant  ( Fortsetzung). Irrfahrten, von 2. Rosenberg( Fortseßung). Verbrennung und Wärme­effekt unserer Brennmaterialien, von Rothberg- Lindener( Fortseßung). Zum neunten Mai. Ein Gedenkblatt von Bruno Geiser( Schluß). Dem Schicksal abgerungen, Novelle von Rudolph v. B......( Fortsetzung). Die Republiken Südamerikas   in ihrer Vergangenheit und Gegen­wart. Historische Stizze von Dr. M. Vogler( Fortsetzung).- Ueber den Einfluß von Fabrik- und Straßengeräuschen auf Menschen und Gebäude ( Schluß). Die Mysterienspiele des Mittelalters und das Oberammergauer   Passionsspiel( mit Illustration).

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Verantwortlicher Redakteur: Bruno Geiser in Leipzig  ( Südstraße 5).- Expedition: Färberstraße 12. II. in Leipzig  . Verlag von W. Fink in Leipzig.  -Druck der Genossenschaftsbuchdruckerei zu Leipzig  .