Thatsachen die Pforten der Schule zu öffnen und die wissenschaft­lichen Vermuthungen unbarmherzig auszuschließen.

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Garnicht gelehrt soll all' das werden, was nicht als That sache wissenschaftlich festgestellt ist, verlangt Virchow, und zwar nicht nur den Bauernjungen" soll der noch nicht wie ein rocher de bronce konsolidirte Theil der Wissenschaft nicht gelehrt werden, sondern auch die Schulmeister sollen davon beileibe nichts zu hören bekommen.

Es ist kaum glaublich, aber es ist wahr. Virchow sagte:

Das( nämlich: auf den Unterschied zwischen Thatsachen und Vermuthungen Hinweisen) können wir aber nur bei schon Ent­wickelten, bei schon Gebildeten. Wir können nicht dieselbe Methode in die Volksschule übertragen, wir können nicht jedem Bauern­jungen sagen:, Das ist thatsächlich, das weiß man, und das ver­muthet man. Im Gegentheil, das, was man weiß, und das, was man vermuthet, mengt sich in der Regel so sehr in ein ein­ziges Gebilde zusammen, daß das, was man vermuthet, als die Hauptsache, und das, was man weiß, als die Nebensache erscheint. Umsomehr haben wir, die wir die Wissenschaft tragen, wir, die wir in der Wissenschaft leben, die Aufgabe, daß wir uns ent­halten, in die Köpfe der Menschen, und, ich will es hier be­sonders betonen, in die Köpfe der Schullehrer, das­jenige hineinzutragen, was wir blos vermuthen."

Die Schullehrer werden sich für die sonderbare Meinung, die der Geheimrath Professor Dr. Virchow von ihrer Bildung, ihrer wissenschaftlichen Burechnungsfähigkeit hat, wahrscheinlich hübsch bedanken. Ob er sie über oder unter die Bauernjungen rangirt, ist nicht recht ersichtlich, soviel aber steht fest, daß er sie zu den ,, schon Entwickelten, schon Gebildeten" nicht rechnet.

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Nun nehme man einmal die erste beste Wissenschaft her, fümmere sich vorläufig nicht um die von mir vorhin berührte Schwäche auch der thatsächlichsten der wissenschaftlichen Thatsachen, jener Schwäche, die darin besteht, daß sie gelegentlich wieder in das Schattenreich der Vermuthungen zurückfallen, und vergegen wärtige sich einmal, was für die Köpfe der Schulmeister von der betreffenden Wissenschaft, nach strenger Beseitigung alles nur Ver­mutheten, übrig bleiben wird.

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Man beginne z. B. bei der Physik, von der die Schullehrer eine tüchtige Portion ihren Jungen mundgerecht zu machen haben, und beschaue sich die Grundlage des modernen physikalischen Wissenschaftsgebäudes die Lehre von der Zusammensetzung alles dessen, was da ist, aus unendlich vielen, unendlich kleinen Theilen, die Lehre von den Atomen. Ist sie wissen= schaftliche Thatsache oder ist sie wissenschaftliche Ver­muthung??

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Nicht im entferntesten ist ein Physiker im stande, die Lehre von den Atomen über die noch sehr zweifelhafte Stufe der Wahr­scheinlichkeit emporzuheben, und es sind immer von neuem geist­und kenntnißreiche Physiker aufgetreten, welche von den Atomen nichts wissen wollen und die Beschaffenheit der Materie in andrer Weise darzulegen suchen.

Sollte nun den Bauernjungen und den Schulmeistern die Atomenlehre sorgfältig verheimlicht werden? Dann dürfte man ihnen einfach garnichts von der modernen Physik lehren! Herr Virchow wird zugeben, daß das nicht angeht. Dieses Beispiel, dessengleichen ich für jedes andre Gebiet unsrer Naturwissenschaften ins Feld zu führen vermöchte, zeigt mithin, daß eine Beschneidung der Wissenschaft, wie sie Herr Virchow ad usum delphini­d. h. zu Nuß und Frommen der nach seiner Meinung wissen­schaftlich Unmündigen, durchgeführt wissen will, total unthunlich ist. Das wissenschaftlich Vermuthete gehört zu dem mit einiger Berechtigung als wissenschaftliche Thatsachen Betrachteten, wie die Atmosphäre und die Erde zu den Lebewesen gehören, die auf der letzteren und aus ihr gedeihen. Die wissenschaftlichen That­sachen werden nicht geboren ohne die wissenschaftlichen Ver­muthungen, sie bilden ohne sie kein zusammenhängendes Ganze, sie wären steif, starr, unbrauchbar, wenn sie überhaupt wären, ohne sie.

Was bleibt da übrig und was ist einfacher und natürlicher als: die Wissenschaft lehren, wie sie ist unbeschnitten mit dem ein­fachen oder normalen Reingold der Thatsachen und dem als echt und edel noch nicht genügend bestätigten und bethätigten Metalle ihrer der wissenschaftlichen Vermuthungen?.

Aber die Bauernjungen die Bauernjungen?

Wenn sich Herr Virchow gegenwärtig gehalten hätte, daß man eine wissenschaftliche Rede nicht aus dem Aermel schütteln

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soll und kann, selbst wenn man Herr Virchow ist, so würde er hoffentlich die kleinen Kerle vom Dorfe lieber ganz aus dem Spiele gelassen haben.

Die Bauernjungen stehen nämlich gradeso der Wissenschaft gegenüber, wie alle anderen Menschenkinder. Während sie die unterste Grundlage menschlichen Wissens legen in der eigentlichen niederen Volksschule, haben sie mit der Wissenschaft, die von den Herren Virchow , Häckel 2c. gelehrt wird, garnichts zu thun, wenn besagte Herren nicht etwa die freien Künste des Lesens und Schreibens, das Einmaleins und die vier Spezies, das bischen beschreibende Naturlehre und die simplen Geschichtserzählungen welche die Volksschule vorzutragen hat, auch als ihre Domäne in Anspruch nehmen.

Steigen die Bauernjungen aber empor auf der Stufenleiter des Wissens- nun, so wird man für sie allerdings ebensowenig eine besondere Wissenschaft in besondere verstümmelte Form zu backen haben, wie für die nicht vom Dorfe stammenden Jünger der Wissenschaft, und bei ihnen wird die Gefahr für die Wissen­schaft, in Mißkredit zu gerathen, wenn einmal etwas für wissen­schaftlich richtig Gehaltenes in den Orkus der Irrthümer hinab­sinkt, ebenso wenig vorhanden sein, als bei den andern.

Diese Gefahr wird die Wissenschaft nicht zu gewärtigen haben, wenn man sie lehrt, wie oben von uns verlangt wird, als das, was sie ist, als die in logischen und systematischen Zusammen­hang gebrachte Summe dessen, was die jeweilige Erkenntniß­fähigkeit der Menschen über den Inhalt von Welt und Leben ergründet hat, mit dem ausdrücklichen Hinweis darauf, daß jeder einzelne Summand der Kritik und Korrektur durch die erhöhte Erkenntnißfähigkeit derer, die mit uns wissenschaftlich denken und arbeiten, wie derer, die nach uns kommen, zur Verfügung steht. Die Gefahr der Diskreditirung der Wissenschaft durch die Widerlegung wissenschaftlicher Lehrsäße und Anschauungen wird aber da vorhanden sein, wo man es macht, wie Herr Virchow will; wo man den wissenschaftlich noch nicht weit Vorgeschrittenen nur das darbietet, was man für wissenschaftliche Thatsache hält; dieweil eben auch hin und wieder einer wissenschaft­lichen Thatsache etwas Menschliches, nämlich das Altern und Absterben, passirt und weil dann dieser Tod unsterblich gehal­tener wissenschaftlicher Säße die auf diesen Verlust eben darum völlig unvorbereiteten Wissenschaftsjünger umso härter treffen und in ihrem Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit all' ihres wissenschaft­lichen Besitzthums arg erschüttern muß.

Also: aus allen möglichen Gründen hat das Volk zu ver­langen, daß ihm in allen seinen Theilen, soweit man ihm über­haupt die Wissenschaft vorträgt, die Wissenschaft in ihrer wahren Gestalt, unverstümmelt, mit ihren Vorzügen sowohl als ihren Schwächen und mit Hinzufügung des ehrlichen Bekenntnisses, daß die Wissenschaft in keinem ihrer Theile unsterbliche, absolute, sondern nur vergängliche, relative Wahrheit bietet, bieten soll und bieten kann.

Das ist, was das Volk ebenso von den Heißspornen der Wissen­schaft verlangen muß, an deren Spize in Deutschland Herr Häckel das Reich des menschlichen Denkens von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang durchstürmt, als von den Sicherheits­kommissarien, gleich Herrn Virchow, die da meinen, sie dürften der großen Menge der Menschen nur die abgegriffene Kleinmünze aus dem Schaze ihrer wissenschaftlichen Reichthümer anvertrauen. Wie wir uns aber zu verwahren haben wider die durch Virchow befürwortete Verstümmelung oder meinetwegen auch ,, Reinigung der Wissenschaft, so haben wir desgleichen den guten Willen des Herrn Häckel höflichst zurückzuweisen, welcher uns den mit sich überſtürzenden Hypothesen ausstaffirten Darwinismus als neue Religion" aufoftroyiren möchte. Das zum Denken erwachte Volk braucht mehr als alles andere die ewig junge, ewig sich neu­gebärende Wissenschaft, welcher jedes System, jede wissenschaft­liche Richtung nichts andres ist, als eine Etappe auf dem Wege des Forschens und Erkennens, die man so rasch als möglich zu überwinden trachten muß; eine neue Religion aber braucht es nicht, eben darum, weil die Religionen, seien sie, weß Inhalts sie wollen, nicht die Eigenthümlichkeit haben, unermüdlich mit dem Geistesfortschritt der Menschheit vorzubringen, und nicht die Aufgabe, ihn und nur ihn allein zu fördern, sondern weil sie im Gegentheil daran zu erkennen sind, daß sie hinter dem geistigen Vormarsche der Menschheit von Schritt zu Schritt mehr zurückbleiben und wie ein Bleigewicht am Fuße der Denkenden und Forschenden hängen.

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