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Geschichten und Bilder aus Graubünden .

II.

Von Dr. Max Vogler.

Wer heute seinen Weg durch das Tal Bergell nimt, begegnet dort einem kräftigen Menschenschlage mit interessanten, scharfge­zeichneten und ausdrucksvollen Gesichtszügen. Vor allem die großen schöngewachsenen Männer bringen einen vorteilhaften Ein­druck hervor, wärend das weibliche Geschlecht nicht selten durch die anstrengende Arbeit und das häufige Tragen schwerer Lasten auf dem Rücken verkümmert. Die Eigentümlichkeit einer National­tracht sucht man heutzutage bei ihnen vergeblich; die Mehrheit der Bewoner kleidet sich in starkes, selbstverfertigtes sogenantes Haustuch. Die Lebensweise ist noch eine ziemlich einfache; die gegenwärtige Beschäftigung hat jedenfalls einen vorteilhaften Ein­fluß auf die Sitten ausgeübt. Besonders rühmt man den Leuten große Arbeitsamkeit nach. Ein stolzes Selbstgefül und der Sinn für Freiheit ist ihnen eigen; die Selbständigkeit ihres Karakters artet nicht selten in eigensinnige Rechthaberei aus. Die sie fort­wärend umgebenden Gefaren einer wilden Natur haben sie vor sichtig und mistrauisch gemacht, und die Täuschungen, die ihre Vorältern nicht selten von fremder Seite erfaren, mögen den Hang zur Verstellung, den man unschwer an ihnen bemerkt, verschuldet haben, wärend die Schwierigkeit des Erwerbs wol jene Liebe für das Geld herbeigefürt hat, die sich bei ihnen mit großer Sparsamkeit part und in nicht wenig Fällen die Ursache eines ziemlich bedeutenden Wolstandes gewesen ist. Ein streng recht­licher Sinn ist ferner eine ihrer Zierden; wenn man auf Diebe oder Bettler trifft, so pflegen dies nicht Einheimische, sondern Italiener zu sein. Leidenschaftlichkeit des Temperaments ist allen Talbewonern gleich den Italienern eigen; hinsichtlich der mehr heiteren oder düsteren Grundstimmung des Gemüts findet man oft auf ganz kleinen Gebieten Unterschiede. Der Bildungsstand ist ein sehr verschiedenartiger, je nachdem die Leute in der Fremde neues gesehen und gelernt oder, an die Heimatliche Scholle ge­klebt, zäh an ihren Gewonheiten und Sitten festgehalten und ihren Gesichtskreis nicht erweitert haben. In neuerer Zeit suchen sich viele im Auslande als Zuckerbäcker, Wirte, Droguisten, Händ­ler 2c. ein Vermögen zu erwerben, um dann, wie so viele aus­gewanderte Gebirgsbewoner, meist wieder in die Stille ihres Alpentals zurückzukehren. Wer, der sich auch nur einmal fürzere Zeit in Berlin aufgehalten, hätte z. B. nicht von der altrenom­mirten Konditorei Spargnapani unter den Linden" gehört?- Auch diese Familie stamt aus dem Bergell. Der Name soll ur­sprünglich nur ein Bei- oder Uebername gewesen sein, wie die Bergeller einen solchen fast jeder Familie beizulegen lieben, und zwar für einen Zweig der alten, in den: Grenzdorfe Castasegna ansässigen Familie Maffei, welche durch Sparen( sparagnare) reich geworden sei. Mehrere der Sparagnapani zeichneten sich im vorigen Jarhundert als Hauptleute in fremden Diensten aus, und von einem derselben erzält man, er sei mit seinen Soldaten einmal lange Zeit in einer Festung eingeschlossen und endlich sich zu ergeben gezwungen gewesen. Da habe er die drei noch übrigen Brote auf ein Fenster gelegt, und bei deren Anblick hätten die belagernden Feinde verwundert ausgerufen: Pane , pane!" Von diesem Vorfalle soll der Beiname Sparagnapane(" Spare Brot!") abgeleitet worden sein.

Die Bergeller, die daheim bleiben, finden durch den Waren transport und die Landwirtschaft Verdienst. Ihre Häuser pflegen ganz massiv gebaut zu sein, da es an Steinen nicht mangelt und der Granit sich leicht behauen läßt; die Dächer werden mit starken, schieferartigen Platten gedeckt. So zeigen die meisten Ortschaften nicht wenige ansehnliche, teils ältere, teils neuere Gebäude, wä­rend kleine, oft recht einfache Hütten im Tale und auf den Höhen verstreut umherliegen. Das Nomadenleben, welches ein Teil der Bergeller fürt, bringt es mit sich, daß manche Haushaltungen mehrere verschiedene Wonungen haben, die sie abwechselnd be­nuzen; da die Leute ihre Wiesen und Weiden nämlich teils im Tale, teils auf den Höhen besizen, so ziehen sie mit ihrem Vieh bald dahin, bald dorthin, wo sie das Hen haben, oder es be­geben sich, selbst mitten im Winter, blos ein oder ein par Mit­glieder von der eigentlichen Behausung hinweg, nemen ihre Kühe und Ziegen mit sich und bereiten auf den sonnigen Höhen Käse und Butter. Sonderbare Wonungen finden wir in dem durch Rüfen und Wildbäche besonders gefärdeten und zum Teil dreimal

( Schluß.)

verschütteten Dorfe Casaccia , wo die mit lehmiger Erde sich ver­mischende Rüfe am Piz Lunghino sich manchmal wie ein kleiner Berg herniederwälzt. Mit solcher Masse sind nämlich mehrere, zum Teil zerstörte Gebäude angefüllt, darunter das ehemalige Kloster, in welchem die kellerartig gewordenen Räume als Stuben bewont werden.

Eines der hauptsächlichsten Narungsmittel der Talbewoner bilden die Früchte der Edelkastanien. Sie werden, unter einer Laubdecke in den Hütten verwart, wo sie sich etwa ein halbes Jar lang genießbar erhalten, teils zu frischem Gebrauche benuzt, teils und öfter noch in jenen Hütten gedörrt. Zu diesem Zwecke befreit man sie von ihrer stachelichten Hülse und schüttet sie auf einen Rost, wo man sie oft umrürt, wärend darunter ein schwaches Rauchfeuer unterhalten wird, bis die äußere und innere Schale berstet. Dann schlägt man sie in einem Sacke auf Steinplatten, damit die Schalen abfallen. Wenn sie auf diese Weise hart ge­worden sind, so können die ganz gebliebenen aufbewart und dann gekocht werden, wärend aus den zerstückelten ein narhaftes Mel gemalen wird. Das Kastanienlaub verwendet man sowol als Futter für die Ziegen und Streu für das Vieh, wie als Lager für die Menschen, indem man es in Säcke stopft. Das Holz dient vortrefflich zum Brennen, zum Bauen und zur Verfertigung von Gefäßen.

Merkwürdig ist die auch früher von den Italienern ange­wendete und hier besonders in dem abgelegenen Hochtale Avers gebräuchliche Zeitrechnung, nach welcher die Leute die Zeit von einem Sonnenuntergang bis zum andern als Anhaltspunkt nemen, one diese Zeit in zweimal zwölf Stunden zu teilen. Naturgemäß werden demnach die Stunden je nach den verschiedenen Jares­zeiten verrückt. Komt also der Wanderer beispielsweise in der Abenddämmerung nach Avers , so ist es etwa 24 Uhr", und will er morgens ungefär um, 9 oder 10 Uhr" weiterreisen, so muß er vor oder mit der Sonne aufstehen. Außerdem haben die Ge­birgsbewoner ihre natürliche Uhr, indem ihnen die Spizen der Bergstöcke als Anhaltepunkte dienen, um, zumal im Winter und wenn es nicht allzu trüb ist, den Stand der Sonne zu erkennen. So hat man ein ,, Piz da mezdi" ,,, Piz lan due", Piz lan tre" etc., welche also die Zeit um Mittag, um zwei Uhr, um drei Uhr u. s. w. anzeigen.

Schulunterricht findet nur im Winter statt, und zwar in den oberen Gemeinden in einer Dauer von sechs, in den unteren von fünf Monaten, da wärend des Sommers und Herbstes die Kinder bei der Landwirtschaft beschäftigt werden; er geschiet in der ita­lienischen Sprache, welche auch in der Kirche und im öffentlichen Leben sich in Gebrauch befindet, wärend im gewönlichen gesell­schaftlichen Verkehr ein zum guten Teil romanischer Dialekt vor herschend ist, den man, neben der lombardischen Mundart, auch in den wenigen vorhandenen Volksliedern des Bergells wieder findet. Den Kirchengesang verrichtet ein gemischter Chor, nicht die ganze Gemeinde; eine Orgel ist in keinem Gotteshause auzu treffen.

Die Sizungen des Gerichts werden in Promontogno, dem Kreishauptorte, abgehalten. Das leztere hat indes nicht viel zu tun, da besonders seit der Einrichtung des Instituts der Friedens richter die Zal der sonst so häufigen Prozesse sich bedeutend vers mindert hat.

Besondere Sitten und Gebräuche sind nur noch wenige vors handen. Neben den nicht sehr häufig veranstalteten Belustigungen durch Spiele und Tänze, die nach einfachster Musik stattfinden, wollen wir hier nur noch das in übermäßigem Grade bei Hoch­zeiten übliche Schießen erwänen und auf den Gebrauch hinweisen, daß bei solchen Anlässen die jungen Burschen in Gemeinschaft mit dem Pfarrer den Bräutigam abholen und in das Haus der Braut begleiten, von wo dann der Zug nach der Kirche get. Nachher pflegt man dem Wein und den Speisen tüchtig zuzu sprechen und das Fest am Abend durch Tänze zu beschließen. In den Ortschaften vom Comersee bis ins Engadin hat sich unter den Kindern noch die von den Römern herstammende Früh lingsfeier am ersten März erhalten( ,, Calendae Martii", lienisch ,, Le Calende di Marzo). An jenem Tage ziehen die Knaben, die größeren mit Soldatenmüzen, Säbeln und Fahnen, die kleineren mit Glöckchen oder mächtigen Ruhschellen versehen,

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