auch sehr häufig vor, daß sie ihnen die Naturallieferungen ganzer Dörfer verpachteten, um den möglichst höchsten Ertrag herauszuschlagen. Wäre es gestattet, diese Erscheinung mit dem Maßstabe der heutigen Moral zu messen, wir würden ebenso­wenig wie wir dies bei der Brautweinpacht getan, Anstand nehmen, die jüdischen Pächter zu verurteilen. Tatsächlich aber taten sie, was gesezlich erlaubt war, und will man gerecht sein, dann muß man auch hier wieder die Edelleute als vielmehr schuldig wie die Juden bezeichnen; die Regierung nahm Rücksicht auf diese Verträge. Sie defretirte, was das durch die Juden angeblich angerichtete Unheil oder ihre eigene Teilname für die Bauern seltsam tarakterisirt, daß die Juden, welche durch derartige Verträge gebunden waren, falls deren Daner nur bis zum 1. Januar 1824 bestimt war, bis zum Ablauf des Jares 1823 im Pachtbesize ver­bleiben durften. Erstreckten sich diese Verträge auf längere Zeit, dann hatten die Gutsbesizer Entschädigung zu leisten, auch wurde bei Staatsdörfern die Staatskasse dafür in Anspruch genommen. Wie der Verkauf von Brantwein, so wurde den Juden in all diesen Gouvernements auch das Halten der Posten und der Hausir handel verboten. Im Jare 1827 ordnete man die Austreibung der Juden aus dem Gouvernement Grodno an. Auch hier wurde wieder menschlicher verfaren. Bei Interessen, welche durch die Aus­treibung geschädigt wurden, erhielt der arme Jude aus der Stadt­kasse hundert bis zweihundert Rubel Entschädigung. Wollte ein Jude, welcher keine Entschädigung erhalten, in den Städten und Flecken Häuser bauen, um darin zu wohnen, so sollte ihm, wenn es möglich war, das erforderliche Baumaterial dazu geliefert werden.

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In dieser Zeit erinnerte man sich auch, daß die Austreibung der Juden aus den Dörfern Podoliens keine vollständige gewesen; im Jare 1829 wurde sie deshalb von neuem auf Podolien, 1830 auf Kiew ausgedehnt, ohne daß indes hier für die Unterstüzung oder Entschädigung der Ausgewiesenen irgendwie Sorge getragen worden wäre. Turch die einander überſtürzenden Ausnahme maßregeln gegen die Juden, durch die Plan- und Ziellosigkeit derselben, die Rücksichtslosigkeit, mit der dabei im allgemeinen verfaren wurde, hatten sich die trostlosesten Zustände entwickelt. Es war dies ja auch natürlich. Die Juden in den Städten, welche onehin schon eng zusammengedrängt lebten, wurden durch den neuen Zuwachs vom Lande in die übelste Lage versezt. Sie mußten ihren bescheidenen Verdienst mit den neuen Ankömmlingen teilen und die Folge war Hunger und Elend für alle, wol auch ein sittlicher Rückgang, da die beschränkte Berufstätigkeit zu einer Konkurrenz zwang, die dem Konkurrenten und Konsumenten gegenüber zum Aufgebot kaufmännischer Schlauheit und Ueber­redungskunst nötigte und die sittlichen Begriffe in bedenklicher Weise verwirrte. Man wundert sich oft über die Mühlendam­mer", wir werden aber aufdringliche jüdische Händler überall dort finden, wo sie ghettoartig nebeneinander zu wohnen ge­zwungen sind. Die gleiche Erscheinung trifft man übrigens auch unter änlichen Verhältnissen bei den Christen an, die Konfession, die Rasse" macht hier nichts, die Erscheinung, von der wir da sprechen, ist lediglich das Resultat bestimmter wirtschaftlicher Ver­hältnisse. Die Armut der Juden in den Städten, die ihnen zum Wohnsiz angewiesen waren, steigerte sich infolge jeder neuen Austreibung; besonders groß war der Notstand in Podolien, Volhynien, in welchen Gouvernements bekantlich schon einmal tes Notstandes wegen die Austreibung sistirt werden mußte. Auch im fiewer Gouvernement zeigte sich ein großer Notstand und abermals erhoben die Behört en wieder ihre Stimmen, die Ein­stellung der weiteren Austreibungen anratend. Infolgedessen wurden sie auch bis zum Erlaß eines allgemeinen Statuts über die Juden widerrufen, nachdem bereits zalreiche Familien von ihr betroffen worden waren und man großes Unglück angerichtet hatte. Am 13. April 1835 wurde das verheißene allgemeine Statut erlassen und dieses hielt in Anbetracht der großen Schwie rigkeiten, welche sich ihrer Durchführung entgegenstellten, den Widerruf der Austreibungen im allgemeinen aufrecht. Allerdings war er fein unbedingter und definitiver, sondern nur ein zeit­weiser, doch in Wirklichkeit kam die Zeit der Wiederaufname nie. Mit Ausnahme der Staats- und Kosackendörfer in den Gouver nements Tschernigow , der Militärkolonie in Kiew und Podolien ist heute innerhalb der Seßhaftigkeitslinie der Juden das Woh nen in den Dörfern fast überall wieder gestattet. In den Gouver nements Wittebsk und Mohilew ist ihnen zwar nicht die feste

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Ansässigkeit und der Grundbesiz, doch wenigstens der Aufenthalt und die Ausübung ihrer verschiedenen Berufstätigkeit gewährt. ( Artikel 16 Band 14 der Ordnung des Paßwesens von 1876.) In der Praxis ist man auch in einzelnen Gouvernements von Altrußland milder. Es gibt Ausnahmen, Kiew z. B., wo den Juden durch Manifest vom 23./6. 5./7. 1794 gestattet war, kaufmännische und gewerbliche Geschäfte, Handwerk u. s. w. zu treiben. Im Jare 1870 fand die christliche Kaufmannschaft in Kiew , daß sie durch die Konkurrenz der Juden empfindlich ge­schädigt würde. Die Stadtvertretung wante sich deshalb mit einem Gesuch an die Regierung, die Juden aus Siew auszu­treiben und ihnen die weitere Niederlassung zu verbieten. Es stützte sich dieses Gesuch auf die alten städtischen Privilegien, welche nur christlichen Kaufleuten Handel und Gewerbe gestatteten, auch auf die Reibereien und Mißhelligkeiten zwischen Juden und Christen. Die Regierung lehnte mit Rücksicht darauf, daß den Juden die Niederlassung und die Ausübung ihrer Berufstätigkeit 1794 zugesichert und durch kaiserlichen Ukas von 1801 bestätigt worden, ihre Austreibung ab, zumal mit dieser ihr gänzlicher Ruin verknüpft sei, weil sie nicht in den Dörfern und Flecken wohnen dürften, sich also keine neuen Existenzquellen suchen könten. Die christlichen Kaufleute kamen damit nicht zur Ruhe, sie er­neuerten vielmehr ihre Anträge und brachten es glücklich zu Stande, daß durch Utas vom 2./14. September 1827 den Juden das Wohnen in Kiew verboten und ihre Austreibung anbefohlen wurde. Die Maßnahme fand nur bezüglich der Niedergelassenen eine Milderung. Die Grundbesizer erhielten eine Verkaufsfrist von zwei Jahren; nach Ablauf derselben sollten die Häuser ab­geschäzt und binnen drei Monaten öffentlich versteigert werden. Innerhalb dieser Zeit durften die Eigentümer mit ihrer Familie in der Stadt verbleiben, später nur auf Grund von Pässen aus denjenigen Städten, wo sie neue Niederlassungen genommen hatten. Es durften in Zukunft feine Kultus-, keine industriellen Lokale errichtet werden. Auf nicht zu lange Zeit wurde den jüdischen Kaufleuten I. und II. Gilde erlaubt, auf Märkten und Meſſen zu erscheinen. Nicht mehr als sechs Monate nach Erlaß des Utases sollten die Regierungspächter und Lieferanten in Kiew sich aufhalten dürfen. Das gleiche galt von den Engros- Ein­käufern. Der Jude, der vor dem kiewer Gericht zu erscheinen hatte, durfte während seiner Anwesenheit in der Stadt keinen Handel treiben. Die nichtbefizende jüdische Bevölkerung( die gesamte jüdische Bevölkerung bezifferte sich auf 452 Seelen) sollte ein Jar nach Erlaß des Ufases die Stadt verlassen haben. Für die Grundeigentümer mußte die Verkaufsfrist verlängert werden, da innerhalb der gestellten Frist von dreißig jüdischen Eigen­tümern es nur vier gelungen war, ihre Häuser zu verkaufen. Als Ursache wird die große Stille des Geldmarktes bezeichnet, die wol mit der Austreibung der Juden im Zusammenhang stehen mochte. Wenn die Zwangsversteigerung erfolgte, so fürte der Generalgouverneur in seiner Vorstellung an die Regierung aus, dann würden die betreffenden jüdischen Eigentümer ruinirt wer­den. Der Kaiser genehmigte die Verschiebung und zwar bis zum 1. Februar 1831. Man gestattete übrigens den zurück­bleibenden Juden in Anbetracht der Zeitverhältnisse, welche Nuzen von ihnen erwarten ließen, das Halten von einem oder zivei jüdischen Schlächtern. Am 1./13. Februar 1833 erfolgte wiederum eine taiserliche Verfügung, die die Ausweisung der zurückgeblie benen Juden bis zum 1. Februar 1835 verschob. Die Juden baten jezt, umweit von Kiew am Flusse Lybed eine Niederlassung anlegen und dort Handel und Gewerbe treiben zu können, den Bewohnern Kiew's jolle es gestattet sein, in dieses Judenviertel zu kommen und ihre Einkäufe zu machen. Der Gouverneur Graf Lewaschow fand kein Hinderniß, im Gegenteil erklärte er ihr Verbleiben in der neu anzulegenden Vorstadt als im all­gemeinen Interesse liegend. Bei der großen Mäßigkeit der Juden in ihren Lebensansprüchen sei es ihnen möglich, viel billiger als die Christen zu produziren und zu verkaufen. Der Nuzen der Gesamtheit müsse schließlich höher als das eigennützige Interesse der einzelnen christlichen Kaufleute und Gewerbetreibenden stehen. Es ist diese Aeußerung des Gouver neurs in hohem Maße bezeichnend; sie wirft auf die Motive der Austreibung ein grelles Licht und läßt deutlich erkennen, daß es in diesem Falle bestimt der Wucher nicht war, der die Austreibung der Juden veranlaßte.

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( Fortsezung folgt.)

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