Die damaligen Gebäude waren keineswegs alte, verwetterte Bauwerke; im Gegenteil, es waren ziemlich schmucke und den Anforderungen der Zeit und der Lokalität entsprechende Häuser. In der Nacht vom 10. April 1775 hatten gelegentlich eines kolossalen Lawinensturzes sämtliche hier früher vorhandenen Gebäude urplözlich das Zeitliche gesegnet. Das Wohnhaus, die Kapelle, das Zollhaus und das nahe Stallgebäude waren augenblicklich in wüste Trümmerhaufen verwandelt worden.
Als ein eigentümliches Wunder erscheint die Tatsache, daß ein Postknecht und vier Reisende, die hier übernachtet hatten, un verlegt dem külen Schneegrabe, das die Schreckensstätte bedeckte, entstiegen. Wenige Jare später erhoben sich dann, dem dringenden Bedürfnisse entsprechend, neue umfangreichere und mit vortreff lichen Einrichtungen versehene Gebäude an Stelle der vernichteten Bauwerke, und nun war es den Menschen vorbehalten, das Werk der Zerstörung zu verüben.
Nach flüchtiger Besichtigung des Hospizes besuchten wir das gegenüber und etwas höher gelegene Berghôtel du Mont Prosa, dessen Besizer zugleich für das Hospiz als Wirt und Herbergsvater zu sorgen hat.
Tausende im Norden und Süden erinnern sich dankbar vielleicht noch jezt und später des Felix Lombardi und seiner Gattin, die hier oben aufopfernd und mildtätig Elend und Not nach Kräften linderten, und one Aussicht auf ehrende öffentliche Anerkennung und Belonung.
Das Hôtel du Mont Prosa, bis in die neueste Zeit mit Post- und Telegraphenbureau versehen, hatte eine nicht geringe Bedeutung als Verkehrsstation. Die centrale Lage an einem zwischen der Schweiz , Deutschland und Italien vielbenuzten Verfehrswege, brachte es mit sich, daß, wenn es die Witterung nur einigermaßen erlaubte, täglich die zwischen Nord und Süd hier verkehrenden Posttrains vor dem Gebäude vorfuren und wärend der hier oben stattfindenden Reisepause die Pferde wechselten.
Daß die Post hier sehr häufig einige Tage verweilen mnßte, war ein Uebelstand, der den Eigentümlichkeiten der landschaft lichen Umgebung entsprang. Dann wagte zuweilen ein kühner und verwegener Postbote die gefarvolle Fußreise, um das Briffelleisen weiter zu befördern. Mancher Brave fand dabei seinen Untergang, indem er von Schneestürzen im Abgrund zum lezten Schlummer eingebettet wurde.
Im Monat Januar 1863, nach ungeheuren Schneefällen, in der Zeit vom 6. bis 14. des erwänten Monats, mußten hier ca. 100 Personen im Hôtel und im Hospiz verpflegt werden, weil nord- und südwärts alle Wege und Pfade gänzlich gesperrt waren!
Troz alledem und alledem war schon vor einem Jarhundert, als man annähernd sieben Tage gebrauchte, um mit Lasten bom Lago Maggiore zum Vierwaldstättersee zu gelangen und für eine Rutschenfart hier die horrende Summe von 547 Franken entrichtet werden mußte, der Weg über den St. Gotthard recht belebt.
Laut den amtlichen Zollberichten passirten damals alljärlich ca. 16,000 Menschen und 9000 Lasttiere die Uebergangshöhe des Berges. Das erste hier oben erscheinende und spez. der Per sonenbeförderung dienende Furwerk, war die Kutsche des engli schen Mineralogen Greville, die am 25. Juli 1775 über den Hochpaß fur.
Die Neuzeit ermäßigte nach erfolgtem Ausbau der Poststraße und nach Eröffnung der Postkurse die Beförderungspreise erheblich; die eidgenössische Postverwaltung begnügte sich mit der verhältnismäßig geringen Tage von 25 Franken pro Passagier.
Endlich sezte sich unsere Wagenreihe wieder in Bewegung, um nun fortwärend bergabwärts farend, wieder direkt den Kurs nach Süden zu nemen. Bald lag das Hochplateau mit seinen Sufluchtsgebäuden hinter uns, und nun ging es in das schlucht artige Val Tremola( Tal des Bitterns) hinein. Von den abschüssigen Berghalden rauschten gewaltige Wassermassen nieder, die in Gestalt gigantischer Castaden zur Tiefe eilend die Abflüsse der hochgelegenen Gotthardseen und gleichzeitig die ersten ergibigen Buflüsse des Tessins bilden.
Das Val Tremola bildet mit seinen steten Lawinen im Herbste und Früjar eine noch verrufenere und gefärlichere Strecke als die Höllenschlucht der Schöllinen.
Den besten Beweis, wie außerordentlich steil sich das Val Tremola in die Tiefe senkt, liefert die Tatsache, daß der Teil
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Dementsprechend windet sich auch die Poststraße über den Abgründen und an den jähen Abhängen entlang in ununterbrochenem Zickzack zur Tiefe hinab. Auch in diesen Schluchten wurde seiner Zeit hartnäckig gekämpft; eine in den Felsen eingemeißelte, jezt ziemlich verwitterte Inschrift:„ Suwarow Victor ", erinnert den Passirenden an den hier am 25. Sept. 1799 erfochtenen Sieg der Russen über die Franzosen.
Es war ein italienisches Herbstwetter in des Wortes schlimster Bedeutung, welches sich hier an jenem Nachmittage zur Geltung brachte. Regenmengen strömten unaufhörlich nieder, und hin und wieder war es auch ein intensiv feuchtkalter Luftzug, der in das Junere der Wagen dringend, den Passagieren eine Gänsehaut über die andere verursachte.
Zwei Zufluchtshäuser mit italienischen Benennungen: San Antonio und San Giuseppe erinnerten uns hinlänglich daran, wo wir uns befanden. Nach dem Passiren des lezteren verließen wir die engere, obere Talschlucht, und nun konte man vom Wagenfenster aus das nächste Reiseziel, tief unten im Tale, das Dorf Airolo , erblicken.
In zalreichen Windungen mit scharf hervortretenden Ecken senkt sich die Poststraße an der steilen Bergwand hinab. Interessant war diese Fart insofern besonders, als die Postpferde wegen der Länge des Gespanns und der Kutsche bei den Biegungen und hervorspringenden Ecken der Straße gewönlich bis zum Rande des Abgrundes vorschritten und dann selbstverständlich auch die Postkutsche bis zu dieser in der Regel eine recht weite Aussicht über die Tiefe gewärenden Position hinausrollen mußte.
Anfangs glaubt jeder, der in dieser Richtung zum erstenmale auf dieser Strecke und in dieser Weise befördert wird, daß unfehlbar das ganze Gespann mit der Postkutsche direkt in den Abgrund hinausstürzen muß, bald gewönt man sich aber bei der oftmaligen Wiederkehr dieser Täuschung an den interessanten Niederblick und gewinnt eine erhöhte Achtung für die Wagenlenker und ihre Geschicklichkeit, die hier das scheinbar Unausbleibliche verhindert.
Der Nachmittag des 18. Oftober( 78.) war schon weit vorgerückt, als wir bei dem Postgebäude des Dorfes Airolo ( 3629 Fuß Meereshöhe, 2880 Fuß unterhalb der Uebergangshöhe des St. Gotthard ), anlangten.
Wie in Göschenen , so belebten auch hier zalreiche Tunnelarbeiter die Dorfgassen, und wie dort, so konte man auch hier großartige Werfgebäude warnemen, in denen die Hülfsapparate und Werkzeuge für die unterirdische Arbeit hergestellt, reparirt und ergänzt wurden.
Diverse ,, Fratelli ticinesi" mit zierlich geknoteten, grellfarbigen Halsbinden, mit schrägaufgesezten breitkrämpigen Spizhüten und zumeist mit recht vernachlässigter Fußbekleidung, lungerten hier bei der Station herum, musterten die Passagire des Posttrains und bildeten in Summa den grellsten Gegensaz wider die wortfargen, fleißigen und ernsten Bewohner Üri's, denen wir am Vormittage begegnet waren.
Das Wetter gestaltete sich im Tale nach kurzer Regenpause wieder etwas schlechter, bald goß es sozusagen in Strömen, unter denen sich unser Posttrain wieder in Bewegung sezte.
Stalvedro, die wildromantische und höchst malerische Felsenenge, durch deren Felsgallerien wir in der Abenddämmerung furen, gewärte uns einen Blick in den in der Tiefe schäumenden Tessin .
Oben auf dem verödeten Felsplateau erheben sich die Ueberreste des angeblich vom Longobardenkönig Desiderius anno 774 erbauten Turmes, an die sich auch die Erinnerung knüpft, daß 1799 im Monat September ca. 600 Franzosen hier die örtlichen Vorteile derartig benuzten, daß 4000 Russen eine unliebſame zwölfstündige Verzögerung ihres Vormarsches erlebten.
Durch Hochtäler und Felsenengen rollten unsere Furwerke auf
der Poststraße, den Fluten des Tessins das Geleit gebend, dahin. In den Riesenkastaden die sich seitwärts von den hie und da sehr nahen Felswänden hinabsenken, spiegelten sich ebenso wie an
den feuchten Partien der glatten Felsflächen, die Lichter unserer Wagenlaternen in zalreichen, mehr oder weniger bewegten Refleren, wärend die feuchte Spende, die etwas allzureichlich von
oben auf unsere Wagen niederträufelte, im lärmenden Geräusche fich an stilleren Partien der Straße bemerkbar machte.
Unser Posttrain eilte an diesem Abend abwechselnd an öden
Geröllhalden, an bebauten Berggeländen, an den imposanten
menden Flußarme hinabsentt, auf die Distanz von einer Weg- Trümmerstätten gewaltiger Berg und Felsstürze vorbei und stunde nicht weniger als 2800 Fuß fällt.
durch Dörfer und kleinere Ansiedlungen hindurch. Hie und da