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welchem er etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines und Menschlich- Großen sind geborgen in diesem ,, Evangelium heutigen Tages zu übersehen glaubt. Johannis."
Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse.
Und so dächte ich, könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er stehet und staunt!
Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendrot seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen.
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Ich meine diesen. Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jeden Orts einzig und allein entwickeln könne, und noch ferner entwickeln sollte, als über eine derselben entweder lächeln oder zürnen?"
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Dieser großartige Gedanke enthüllt die Religion- die christliche genau wie jede andere als den getreuen Abglanz der jeweiligen menschlichen Verstandsbeschränktheit, als einen Inbegriff von Irrtümern, deren sich Stück um Stück eine geistesfortschreitende Menschheit entledigen muß, nicht um jemals dafür das absolut Wahre einzutauschen, sondern mit fortschreitender Vernunft sich zu reineren und reineren Vorstellungen von Welt und Menschheit emporzuringen. Auf dem Gipfel solcher Erkenntnis steht Lessing eben so hoch erhaben über der kindlichen Glaubens wut des ortodoren Christen wie über dem nicht minder kindlichen Haß gegen alles Religiöse, von dem sich die Fanatiker des Unglaubens auch gegenwärtig noch die menschliche Vernunft nicht minder kompromittirend und dem Kulturfortschritt nicht minder hemmend als jene- so häufig besessen zeigen.
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So lag es denn auch völlig im Wesen Lessing's , aus den christlichen Lehren das möglichst Vernünftige zu entwickeln, sie zu durchgeistigen und mit der ganzen Fülle seiner Erkenntnis zu erleuchten.
Die Art, wie er die Lehre von der Erbsünde auffaßt und begriffen wissen möchte, wird das dartun.
Der§ 74 der„ Erziehung des Menschengeschlechts" lautet: „ Und die Lehre von der Erbsünde.- Wie, wenn uns endlich alles überführte, daß der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner Menschheit schlechterdings so Herr seiner Handlungen nicht sei, daß er moralischen Gesezen folgen könne?"
Damit ist die christliche Erbsünde auf einmal von den Schlacken des Wunderbaren und der Nebelhülle des Außernatürlichen befreit und tritt uns als eine Hypotese entgegen, welche die Wissenschaft auf ihre Haltbarkeit zu untersuchen hätte- und die im Lichte modernster naturwissenschaftlicher Anschauungsweise betrachtet fast als kaum noch eines Beweises bedürftig erscheint.
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Die Erbsünde das ist das Element des Tierischen im menschlichen Karakter, das ihm durch Jahrtausende der Kulturentwicklung anhaftet und nur langsam, für oberflächliche und mit ihrem Urteil leichtfertige Beobachter unbemerkbar langsam, mehr und mehr abgestreift wird.
Scharfsinnige Leser werden fragen: Wenn Lessing die Lehren der christlichen Religion so auffaßt, was bleibt da vom Christentum als Religion überhaupt noch übrig?
Nun, für einen gläubigen Christen freilich herzlich wenig und in Wahrheit nichts, wozu der Vernunftmensch die Religion mit all' ihren Dogmen überhaupt braucht, dabei aber alles, was die Menschen nötig haben, um als Menschen edel und glücklich zu werden.
Liebet euch untereinander.
Und daneben mag denn getrost, was sonst an der christlichen und den andren Religionen ist, zu Schutt und Moder
werden!
Daß die Pfaffheit ihr Christentum in Gefahr sah und ihr schwerstes Geschütz gegen den Ungenannten richtete und noch mehr gegen Lessing , der den Ungenannten an's Licht gezogen, läßt sich begreifen.
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das
Bei einer Religion, deren oberster Gerichtshof die menschliche Vernunft und deren allein wesentlicher Inhalt die allgemeine Menschenliebe ist, sind Pfaffen selbst die überflüssigsten Möbel, ja sogar auf die Dauer garnicht möglich.
Es war also ein Kampf um die ganze Zukunft ihres Standes, den eine ganze Reihe von berufenen und nicht berufenen Dienern der Kirche nach der Veröffentlichung der Fragmente wider Lessing begann, eine Reihe, in der sich am meisten hervortat eben jener Johann Melchior Göze in Hamburg .
In den hamburger freiwilligen Beiträgen zu den Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit schlug er los. Anfangs ging er ziemlich glimpflich mit Lessing um, auf einmal aber wandelte sich der gemäßigte Ton in grobe Schmähung und ver leumderische Verhezung.
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Lessing erwiderte Göze mit Mäßigung und Schonung. Zunächst gab er dem Hauptpastor eine Parabel zu bedenken, welche die ganze Geschichte der christlichen Religion andeutete. Er führte sie als einen Palast vor, dessen Bewohner die Geistlichkeit eine Anzahl verder verschiedenen christlichen Bekenntnisse schiedener mit unverständlichen Zeichen ausgestatteter Grundrisse des Palastes besizen, über die sie miteinander streiten und die sie in ihrem Eifer, den Bau und die innere Einrichtung ihres Palastes kennen zu lernen, studiren, statt daß sie den Bau selbst kennen zu lernen sich bemüht hätten.
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Einmal," endet Lessing die Parabel, als der Streit über die Grundrisse nicht sowohl beigelegt, als eingeschlummert war, einmals um Mitternach erscholl plözlich die Stimme der Wächter: Feuer, Feuer in dem Palaste!
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Und was geschah? Da fuhr jeder von seinem Lager auf; und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Palaste, sondern in seinem eigenen Hause, lief nach dem Kostbarsten, was er zu haben glaubte,-nach seinem Grundrisse. Laßt uns den nur retten! dachte jeder. Der Palast kann dort nicht eigentlicher niederbrennen, als er hier stehet.
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Und so lief ein jeder mit seinem Grundrisse auf die Straße, wo, anstatt dem Palaste zu Hülfe zu eilen, einer dem andern es in seinem Grundrisse zeigen wollte, wo der Palast vermutlich brenne. mutlich brenne.„ Sieh, Nachbar, hier brennt er, hier ist dem Feuer am besten beizukommen.- Oder vielmehr, Nachbar, hier! Wo denkt ihr beide hin? Er brennt hier!- Was hätt' es für Not, wenn er da brennte? Aber er brennt gewiß hier! Lösch ihn hier, wer da will. Ich lösch ihn hier nicht. Und ich ihn hier nicht!- Und ich ihn hier nicht!" Ueber diese geschäftigen Zänker hätte er denn wirklich auch Aber abbrennen können, der Palast; wenn er gebrannt hätte.- die erschrockenen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten."
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Aus diesem Tone des Gutzuredens zum Verständigsein ging aber Lessing sogleich in den feurigen Angriffs über, als er sah, daß Göze den Kampf durchaus wolle und nicht den Vergleich. Der Parabel und der ihr angefügten Bitte um Ehrlichkeit im Kampfe folgte das Absagungsschreiben, eine echte und gerechte, wuchtige Feindseligkeits- und Kriegserklärung. Und nun ging der Tanz los, soweit er den einen Kämpen Dieses, wenn es dereinst geschieht, wird sich als der feste betrifft die großartigste Fehde, welche je literarisch ausgeGrund aller Moral erweisen.
Duldsamkeit und Gerechtigkeit, Freude an gemeinsamem Schaffen, Wirken und gegenseitigem Unterstüzen und Fördern und das große Evangelium der Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt, diese Keime alles Menschlich- Guten
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fochten worden ist.
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Göze hatte in zweien seiner Aufsäze über„ Lessings Schwächen" erklärt, daß er nicht eher eingehen würde auf den Punkt, über welchen er mit Lessing streite, nämlich ob die christliche Religion bestehen könne, wenn auch die Bibel völlig verloren ginge, wenn