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lenist in Bessarabien 100 bis 120 Nb. Unterstüzung von reichen Mennoniten. Wenn die jüdischen Kolonisten sich aber auch in besserer materieller Lage befunden hätten, sie hätten nicht einmal das Beispiel der deutschen Kolonisten nachahmen und sich zur Forthilfe russischer Knechte bedienen dürfen. Das Gesez bestrafte es ja streng, wenn ein Jude sich erdreistete, einen Christen in Dienst zu nehmen. Es war ihnen nicht einmal möglich durch cigene Anschauung, durch das Beispiel ihrer christlichen Nachbarn zu lernen, war ihnen doch selbst die Nachbarschaft mit den Christen verboten! Nach dem Reglement der jüdischen Kolonien mußte eine jede derselben drei Werst von der nächsten christ­lichen entfernt sein. Die Juden sollten, wie man sieht, auch in der Landwirtschaft die Abgeschlossenheit und Isolirung fort­sezen, zu der sie im gewöhnlichen Leben durch Gesez und Tra­dition gezwungen waren. Sie sollten nicht einen Augenblick vergessen, daß sie im Grunde genommen nicht einmal würdig wären, dem in den Augen der herrschenden Klassen Rußlands so sehr verachteten Bauernstand gleichgestellt zu werden!- So wurden sie der Möglichkeit beraubt, den Ackerbau anschaulich zu erlernen und sich das Verständnis der Landwirtschaft anzueignen. Ihre Lage war ähnlich der des Robinson: wie dieser mußten sie sich tastend zu orientiren suchen und mühselig Erfahrungen sammeln, wobei eine Fülle von Arbeitskraft verloren ging. Nur bezüglich der Jsolirung ist es übrigens gestattet, die jüdischen Kolonisten mit Robinson zu vergleichen, sonst aber nicht. Der Held der Dichtung bewegte sich doch in einem Kreise, der alles enthielt, was die Natur dem Menschen überhaupt gewähren kann. Die jüdischen Kolonisten aber befanden sich in ganz anderer Lage; der ihnen zugefallene Teil der Steppe bot nicht einmal überall die Möglichkeit der bescheidensten Existenz.

Schauen wir uns in den jüdischen Kolonien um. Die Felder der Kolonisten bilden lange und schmale Erdstreifen, welche 2 bis 3 Werst in der Breite und ungefähr 20 Werst in der Länge messen. Auf allen diesen weiten Feldern befand sich kein einziger Brunnen, so daß die jüdischen Kolonisten, wenn sie auf die Arbeit gingen, Wasser mit sich nehmen mußten. Ein guter gesunder Brunnen, wenn auch neben dem Dorfe, wurde als ein Glück betrachtet. In mehreren Dörfern fehlte der Brunnen voll­ständig; in anderen war das Wasser bitter und salzhaltig und deshalb nicht zu gebrauchen, so in Dobroje und Trudolubowka. Die Einwohner dieser Kolonien mußten das Wasser zum ge­wöhnlichen Gebrauch und für die Feldarbeit aus anderen Ko­lonien durch Pferde beziehen.

Es ist in der Landwirtschaft ein alter Saz, daß die Ent­fernung des Dorfes vom bearbeiteten Felde die Arbeit von Mensch und Vich verteuert. In Rußland hat Tornen heraus­gerechnet, daß eine halbe Werst Entfernung den Ertrag der Arveit des Menschen um 4% und denjenigen der Arbeit des Vichs um 20% o verkürzt, zusammen um 24%; bei einer Werst um 48% 2c., bis endlich der Vorteil in negative Zahlen sich verwandelt.

Man kann jezt ermessen, ob die jüdischen Kolonisten, deren Törfer sich am Längenrande der Ackerflächen befanden, mit Gewinn oder Verlust arbeiten konnten. Das leztere ist wohl zweifellos. Der Verlust wird jedenfalls noch bedeutender, wenn man den Wassermangel, seine Einwirkung auf die Gesundheit von Mensch und Vich, berücksichtigt, und wenn man erwägt, daß nirgendwo so sehr als in der Steppe ein rasches Arbeiten und eine Konzentration der Kräfte erforderlich ist.

Tie hier berührten Mängel zeigen sich in den deutschen Ko­lonien nicht, wenigstens lange nicht in dem Maße wie in den jüdischen.

Hier hat man vor allen Dingen nicht über Wassermangel zu klagen; das Wasser ist gut und, wie wir schon gehört, reich lich vorhanden, auch ist die Lage der Felder eine günstigere. Endlich ist auch die Bodenqualität in den deutschen Kolonien im allgemeinen eine ungleich bessere und gleichmäßigere als in den jüdischen.

Wie verschiedenartig der Acker in den jüdischen Kolonien ist, das zeigen folgende Zahlen aus der neuesten Zeit:

Es wurden in den 21 chersoner Kolonien 1877 gefäet: Wintersaat 1499 Tschetwert, Sommersaat 5863 Tschetwert. Die Ernte betrug an Wintergetreide 12 327, an Sommergetreide 54 806 Tschetwert. Dieses anscheinend außerordentlich günstige Resultat erscheint in einem anderen Licht, wenn man das Er­trägnis der einzelnen Kolonien feststellt. Es schwankt die Ernte des Wintergetreides zwischen pro Korn in Lobrowyk- Kut und 31 pro Korn in St. Sitomir. Die Sommersaat ergibt in Ingulet nur 1/3 pro Korn in Lwow dagegen 48/3. Rechnet man auf die Seele 4 Tschetwert Getreide, so wird diese Zahl nur in 4 Kolonien überschritten. Sie beträgt hier 7 Tschetwert; in 5 Kolonien kommen auf die Seele 3, in 9 Kolonien 2 und in 3 Kolonien 1 Tschetwert. Wenn nach amtlichen Berechnungen 2 Tschetwert als das unentbehrliche Duantum für eine Seele bezeichnet werden, so ergibt sich, daß nur in 9 Kolonien mehr als zur Befriedigung des Lebens da ist, in 9 kaum das not­wendige und in 3 Kolonien nicht einmal das unentbehrliche ge­

erntet wurde.

Diese Zahlen gewähren einen sicheren Maßstab zur Beur­teilung der Produktivität des den jüdischen Kolonisten gewährten Die Ackers und der allgemeinen Lage der jüdischen Bauern. 2 Tschetwert pro Secle repräsentiren dasjenige Quantum Ge­treide, welches den einzelnen gegen den Hungertod schüzt. Sie reichen aber nicht aus, die notwendigen Ausgaben für Kleidung und andere notwendige Lebensbedürfnisse oder gar die Steuer an den Staat und die Kultusgemeinde zu bestreiten. Man darf also annehmen, daß sich ein großer Teil der jüdischen Bauern im Notstand befindet. Berücksichtigt man noch, daß unsere Zahlen der neuesten Zeit angehören, wo die Kolonisten bereits Kennt nisse in der Landwirtschaft erworben hatten, wo sie tatsächlich Bauern geworden waren, dann läßt sich das Elend zu jener Zeit ermessen, wo sie in der Landwirtschaft unerfahren waren, sich bei Mißernten 2c garnicht zu helfen wußten, und wo sie noch mit einem anderen Uebelstand zu kämpfen hatten, mit dem Mangel aller Kommunikationsmittel, der allen Kolonisten, christ­lichen und jüdischen, deutschen, polnischen und russischen, gleich fühlbar war. So lebten die Bauern der reichen Uferländer des Dnjepr in beständigem Notstand, obwohl sie Getreide in Ueber­fluß besaßen.

Blättern wir zur Ergänzung unseres Bildes in der traurigen Geschichte der jüdischen Ackerbaukolonien wieder ein wenig zurück. Zu den ersten Kolonien, die zwischen 1807 und 1809 gegründet wurden, gehören Jeraclewka, Bobrany Kut, Seide- Wemiche, Groß und Klein Nehartow, Effinger, Kamenfa, Islutschistaja. Im Jahre 1810 wurden diese Kolonien von 600 Familien mit einer Gesammtbevölkerung von 3640 Seelen bewohnt. Im Jahre 1837 erfolgte ein großer Zuwachs zu den Kolonien; 1844 lebten von der Landwirtschaft 1657 jüdische Familien mit 11 901 Seelen und die damals bestehenden 15 Kolonien be­faßen 82 380 Deßj. Land. Bis 1849 entstanden noch weitere 12 Kolonien. Wenn wir ,, Familien" sagen, so ist darunter mur zumteil die gewöhnliche Familie zu verstehen. Die russische Re­gierung erklärte bei Gründung der Kolonien: Land erhalte nicht eine einzelne Person, sondern nur eine Familie; eine solche müsse zum mindesten aus drei Personen bestehen; sie könne jedoch auch aus drei einzelnen Personen zusammengesezt sein, die zu einander in gar keinem Familienverhältnisse stünden. Es wurden in der Tat zahlreiche derartige Familien" geschaffen, zwischen denen und wirklichen, abgesehen von allen anderen Unterschieden, doch ein bedeutender Kontrast hinsichtlich der Produktivität besteht. In diesen künstlichen Familien spielen Mißgunst und Neid eine größere, Opferwilligkeit und Liebe eine geringere Rolle als in der natürlichen Familie. Hier war jedenfalls alles gegeben, um eine brüderliche, eine genossenschaftliche Organisation zu schaffen, die zur höchsten Kraftentfaltung wohl geeignet war. Tatsächlich begegneten die jüdischen Kolonisten einander anfänglich als Brüder, und dieser gute Anfang verhieß die glücklichste Entwicklung und sie wäre wohl auch erfolgt, wenn die Pflege des großen und schönen Unternehmens nur in bessere Hände gefallen wäre, als die Regierung dazu bestimmt hatte. Wir hatten vorhin gesagt,