daß die Kolonien ihre stetige Entwicklung fanden. Man kann sich denken, in welcher Art der Einfluß der Unteroffiziere sich geltend machte. Das Reglement über die jüdischen Kolonien verordnet zwar in§ 18, daß die Aufseher nur ,, mäßige Strenge" zu beobachten hatten,§ 16 aber überließ die Bestrafung ganz ihrem Ermessen. Den brutalsten Mißhandlungen mit der Knute waren auch Weiber, Greise und Kinder ausgesezt.
Die Wirkungen der militärischen Prügelpädagogik, die in den Kolonien praktizirt wurde, blieben nicht aus. Als freie Leute waren die Juden in die Kolonien gekommen, sie hatten in denselben Erleichterung ihres Daseins zu finden gehofft, Ruhe und Frieden nach endlosen Mißhandlungen und Hezereien. Was die Kolonien ihnen gewährten, das war fast noch ärger als das Schicksal der unglücklichen Leibeignen auf den Gütern der blaublütigen Aristokraten.
Rennte tei so unerhörter Behandlung freier Menschen ein Löheres sittliches Leben plazgreifen? Wo die Knute des Unteroffiziers gehandhakt wurde, um Fleiß und Arbeitsfreudigkeit zu cweden, da mußte aller Schaffenstrieb ersticken und alle Liebe zum neuen Beruf crlöschen. Man konnte nicht anders, als ihn hassen und d.n cinzigen Gedanken hegen, ihm so rasch als möglich zu entfliehen.
Wie in den Kolonien die tiefste Entmutigung plazgriff, so wirkte das Schicksal der Kolonisten überall hin und im höchsten Maße abschreckend. Die Kolonisten sowohl wie ihre Glaubens genossen außerhalb der Kolonien lebten schließlich in dem Wahn, daß die Kolonien dazu auserschen seien, ein Uebergangsstadium zur Leibeigenschaft zu bilden, der alle Juden überliefert werden sollten. Was Wunder, wenn sich jeder, der sich dem entsezlichen Dasein durch die Flucht entziehen konnte, es tat.
Ter verzweifelte Zustand der Kolonien konnte der Regierung auf die Dauer nicht verborgen bleiben; sie überzeugte sich, daß sie in der Wahl der Aufseher doch einen entschiedenen Mißgriff getan, sie bericf die Unteroffiziere ab und schickte Civilaufseher in die Kolonien. Diese aber waren ebensowenig wie ihre Vorgänger Landwirte, und waren die Unteroffiziere brutal gewesen, so waren die Civilausscher forrumpirte Beamte, elende Ausbenter, die keinen anderen Zweck als die Füllung ihrer Taschen auf Kosten der Juden vor Augen sahen. Wer sich nicht gutwillig plündern ließ, der wurde verfolgt, und den Aufsehern standen die furchtbarsten Mittel zur Verfügung, jeden Widerstand zu brechen. Auf ihr Zeugnis hin wurden Bauern ins Militär gesteckt, die garnicht militärpflichtig waren. Ja viele Bauern wurden sogar wegen - ,, nachlässigen Ackerbaucs" nach Sibirien verschickt.
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Wir haben bisher die unglückliche Lage und Ausstattung der Kolonien, das schreckliche geistige Elend kennen gelernt; unser Bild muß noch in materieller, in wirtschaftlicher Richtung eine Ergänzung finden. Werfen wir zunächst noch einen Blick auf die Produktivität der Steppe. Hier finden wir, daß die Er giebigkeit des Steppengebiets, der„ Kornkammer Europas ", wesentlich dem Umstande zu verdanken ist, daß unermeßlich große Flächen zum Getreidebau herangezogen werden. In der Massenbebauung besteht tatsächlich das Wesentliche der südrussischen Getreideproduktion. Die ganze Landwirtschaft ist ein Glücksspiel. Günstige Jahre geben außerordentlich hohe Ernteerträge; da sie aber im allgemeinen nur spärlich eintreffen, muß der Landwirt beständig durch einen möglichst hohen Einsaz das Glück auf die Probe stellen, d. h. eine möglichst große Ackerfläche mit Getreide bestellen. Dies ist möglich, wenn er Geld hat und in der Lage ist, von der Krone Ackerboden zu pachten. Ist der Himmel der Spekulation günstig, dann trägt die Pacht den großartigsten Gewinn. Ist der Sommer zu heiß oder zu naß, dann verliert der Landwirt alles. Um den Verlust auszugleichen, muß er im nächsten Frühjahr den Einsaz verdoppeln, d. h. ein noch größeres Stück Boden in Pacht nehmen. So geht es weiter, bis er entweder ein reicher Mann oder ein Bettler geworden ist. ist hier Glücksspiel, und je kräftiger man daran teilnehmen kann, um so besser wird man in der Regel fahren. Je ärmer der Bauer ist, um so weniger fann er in der Steppe seine Existenz
Alles
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finden. Die südrussische Landwirtschaft verzeichnet als trockene sogenannte Durst- und Hungerjahre mit schlechten Ernten die Jahre 1822, 1823, 1824, 1827, 1830, 1831, 1833, 1835; 1825, 1826 und 1829 waren in dieser Periode allein gute Erntejahre. Als besonders nasse Jahre, bei denen die Ernte gleichfalls zugrunde ging, werden die Jahre 1837 und 1838 bezeichnet.
Nach einer prachtvollen Ernte im Jahre 1866 hatte die Landwirtschaft in Neurußland bis zum Jahre 1871 nur Mißernten erzielt. Das Jahr 1871 brachte wieder eine gute Ernte. In Taurien, das sich im allgemeinen viel günstigerer klimatischer Verhältnisse als das eigentliche Steppengebiet erfreut, waren von den Ernten in zehn Jahren 2 gute, 6 Mittel- und 2 sehr schlechte Ernten.
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Es wird nicht schwer fallen, sich die Lage der jüdischen Kolonien und Kolonisten auszumalen, die infolge ihres schlechten Bodens, der weiten Entfernung der Aecker von den Dörfern und des Mangels an Wasser, sich den christlichen Bauern gegenüber ohnehin bedeutend im Nachteil befinden. Sie konnten bei ihrer Armut an dem Konkurrenzkampfe garnicht teilnehmen. Traf die Kolonien eine Mißernte, so war gleich das vollste Elend da. Hand in Hand mit dem geistigen Elend, mit der Mißhandlung und Knechtschaft ging in den Kolonien ein großes materielles Elend. Das Unglück vervollständigend, kamen Pest und Viehseuchen in die Kolonien. Wie oft die schrecklichste Not die Kolonien heimgesucht haben muß, das ergibt sich annähernd aus den Unterstützungen, welche die Regierung den Kolonien gewährte. Sie erhielten: 1833, 1834 und 1835 Getreide zur Aussaat und zur Ernährung, 1846 Ochsen an Stelle der von der Rinderpest weggerafften, 1848 und 1849 Getreide zur eigenen und zur Ernährung des Viehs, Wintersaat sowie Getreide zur Verbesserung des Futters und Medikamente gegen Viehseuchen . Im Jahre 1856 und 1857 gab es wieder Winterund Sommersaat, Getreide zur Ernährung der Bauern und zum Winterfutter für das Vieh, 1859 und 1860 zur Ernährung der Bauern und zur Aussaat. Das Gleiche geschah 1862, 1863 und 1864; alsdann gab es erst wieder 1869 eine Ge treideunterstützung und zwar wegen einer schlechten Heu- und Getreideernte u. s. w. Wie heftig die Epidemien in den Kolonien wüteten, das läßt das Faktum erkennen, daß in den ersten Zeiten der Kolonienbildung etwa vier Fünftel der jüdischen Kolonisten selbst von der Pest fortgerafft wurden.
Man erinnert sich des bedeutenden Aufschwungs, den die Kolonien gegen Ende der Dreißiger- Jahre nahmen. Die Ursache desselben lag darin, daß der Kaiser Nikolaus glaubte, den durch die schweren Schicksale der Kolonien tief gesunkenen Mut der Juden von neuem dadurch beleben zu sollen, daß er diejenigen Juden, welche der Landwirtschaft sich zuwendeten, vom Militärdienste befreite. Die nächste Folge dieser kaiserlichen Konzession an die jüdischen Kolonisten war die, daß sich alles, was den schrecklichen Militärdienst zu fürchten hatte, in die Kolonien flüchtete, um dort die Landwirtschaft zu ergreifen. In diese Periode fällt der erwähnte große Aufschwung der Kolonien. Zugleich mit demselben aber erwachte eine Reaktion gegen die Kolonisation in den jüdischen Kreisen selbst. Einmal war das erste Feuer längst verglüht, dann aber auch, was ja begreiflich ist, der Glaube an die Zukunft der Kolonisation erloschen.
Zahlreiche Juden hatten die Kolonien verlassen und in den Städten das alte Handelsgewerbe oder das Handwerk wieder aufgenommen. Der Traum der Emanzipation durch schwere Arbeit war gründlich ausgeträumt.
Wirkte schon dieser Zustand der Auflösung im allgemeinen niederschlagend und die Reaktion kräftigend, so tat dies in hohem Maße noch die Schädigung der jüdischen Gemeinden durch die Entfernung der jüdischen Militärpflichtigen.
Im Anfange der Sechziger Jahre erklärte die Aufsichtsbehörde der den Juden erschlossenen Gebieten, daß mit Rücksicht auf die Militärpflicht der Juden die Kolonien nicht nur unnüz, sondern sogar schädlich seien. Die Regierung stimmte dieser Anschauung bei, sie erkannte jezt, daß die Kolonisationsbestrebungen