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Häckels Vortrag über„ Die Naturanschauung von Darwin , Goethe und Lamarck ."
Gehalten auf der 55. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Eisenach am 18. September 1882*).
Unerschütterlich fest steht der beispiellose Erfolg, den Darwin mit seiner Reform der Wissenschaft in dem kurzen Zeitraum von dreiundzwanzig Jahren errungen hat. Niemals, so lange menschliche Wissenschaft besteht, hat eine neue Teorie so tief in das Getriebe des Erkenntniswerkes im allgemeinen, wie in die wertvollsten persönlichen Ueberzeugungen der einzelnen Forscher cingegriffen; niemals einen so heftigen Widerstand hervorgerufen und niemals diesen in so kurzer Zeit völlig überwunden. Die Betrachtung dieser erstaunlichen Umwälzung der gesammten Naturanschauung und Weltauffassung wird ein interessantes Kapitel in der künftigen Geschichte der Entwickelungslehre werden. Als ich 1863, vier Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins bahnbrechendem Hauptwerke, dasselbe zum erstenmale auf der Naturforscherversammlung zu Stettin zur Sprache brachte, war die große Mehrzahl der Ausicht, man dürfe solche„ naturphilosophische Phantasicn" eigentlich nicht ernsthaft diskutiren. Ein angesehener Zoologe erklärte die ganze Teorie für den „ harmlosen Traum eines Nachmittagsschläfchens", während ein anderer sie mit dem Tischrücken und dem Od verglich. Ein berühmter Botaniker versicherte, daß keine einzige Tatsache zu Gunsten dieser„ haltlosen Hypotese" spreche; daß sie vielmehr mit allen Erfahrungen in Widerspruch stehe; und ein namhafter Geologe meinte, daß auf diesen vorübergehenden Schwindel bald die unausbleibliche Ernüchterung folgen werde. Ein bekannter Physiologe nannte später die ganze Stammesgeschichte einen Roman, und ein Anatom prophezeite, daß nach wenigen Jahren kein Mensch mehr davon sprechen werde. In dickleibigen Werken und in zahllosen Abhandlungen wurde der Nachweis geführt, daß Darwins Teorie vom Anfang bis zu Ende falsch sei, unbewiesen durch Tatsachen, trügerisch in ihren Schlüssen, verderblich in ihren Folgerungen. Ja selbst noch vor fünf Jahren, als ich auf der Naturforscherversammlung zu München ( 1877) , die heutige Entwickelungslehre im Verhältnisse zur Gesammt wissenschaft" beleuchtete, stieß ich auf den entschiedensten Widerspruch eines unserer berühmtesten Naturforscher; und dieser gipfelte in der Forderung, den Darwinismus als„ unbewiesene Hypotese" vom Unterricht auszuschließen.
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Und was ist heute von all' diesen Verdammungsurteilen unserer zahlreichen Gegner übriggeblieben? Nichts! Gerade die Zahl und Wucht ihrer vielseitigen Angriffe hat uns zum entschiedensten Siege geführt. Denn je mehr die unerschütterliche Veste der neuen Naturforschung von allen Seiten angegriffen und mit den verschiedensten Waffen bekämpft wurde, destomehr ließen ihre unerschrockenen Verteidiger es sich angelegen sein, die einzelnen Lücken ihrer geschlossenen Ringmauer auszufüllen. Es genügt, einen Blick in die zahlreichen Zeitschriften und die wichtigsten Werke derjenigen Fächer zu werfen, die zunächst und am meisten von Darwins Lehre berührt werden: Zoologie und Botanik, Morphologie und Physiologie, Ontogenie und Paläontologie. Da erscheint fast keine bedeutendere Arbeit mehr, die nicht von der Idee der natürlichen Entwicklung durchdrungen ist. Fast alle Untersuchungen- mit verschwindend wenigen und unbedeutenden Ausnahmen gehen von diesem Grundgedanken Darwins aus; fast alle nehmen mit ihm an, daß die Formverwandtschaft der verschiedenen Tier- und Pflanzenarten auf ihrer wahren Blutsverwandtschaft beruht, und daß gemeinsame Abstammung einerseits, allmäliche Umbildung andrerseits uns die verwickelten Beziehungen der Organismenwelt erklärt. Aber auch der eigentliche Darwinismus im engeren Sinne, die Selektionsteorie, hat troz allen Angriffen ihre Geltung be= halten; denn sie deckt uns erst die physiologischen Ursachen auf, durch welche der Kampf ums Dasein jene Umbildung oder Trans
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*) Wir geben den hochbedeutsamen Vortrag in einem alles Wesentliche enthaltenden Auszuge und mit Häckels eigenen Worten.
formation mechanisch bewirkt. Wenn auch keineswegs die natürliche Züchtung die einzige Triebfraft im Transformismus ist, so bleibt sie doch bis jezt der wichtigste Hebel desselben. Indem Darwin sie an der Hand der künstlichen Züchtung entdeckte, löste er eins der größten biologischen Rätsel. Denn die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl durch den Kampf ums Dasein" ist nichts Geringeres, als die endgültige Beantwortung des großen Problems:" Wie können zweckmäßig eingerichtete Formen der Organisation ohne Hilfe einer zweckmäßig wirkenden Ursache entstehen?" Wie kann ein planvolles Gebäude sich selbst aufbauen ohne Bauplan und ohne Baumeister? Eine Frage, welche selbst unser größter kritischer Philosoph, Kant, noch vor hundert Jahren für unlösbar erklärt hatte.
Auf keinem Gebiete der Naturwissenschaft traten aber die großartigen Erfolge Darwins klarer zu Tage, als auf demjenigen, in dem unsere eigenen Untersuchungen sich bewegen, auf dem weiten Gebiete der Morphologie, der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte. Denn in der Morphologie, die auch Goethes besonderer Liebling war, hängt gerade alle tiefere Erkenntnis von der Anerkennung der Abstammungslehre ab; und gerade hier sind mit ihrer Hilfe in kürzester Zeit die glänzenden Resultate erzielt. Die Stammbäume der einzelnen Formengruppen, die anfangs kaum als heuristische Hypotesen sich ans Licht wagen durften, sind jezt für viele Organismengruppen schon vollständig anerkannt. Um nur einige Beispiele anzuführen, so zweifelt kein einziger urteilsfähiger Zoologe mehr an der Abstammung der Pferde von tapirartigen Paläoterien, der Wiederkäuer von schweineartigen Anaploterien, der Vögel von eidechsenartigen Reptilien. Kein einziger bezweifelt mehr, daß alle höheren, luftatmenden Wirbeltiere aus niederen kiemen atmenden Fischen entstanden sind. Aber selbst die wichtigste und bestrittenste von allen Deszendenz- Hypotesen, die Abstammung des Menschen von affenartigen Säugetieren, hat in den lezten Jahren auf Grund gereifter Erkenntnis so sehr die allgemeine Anerkennung der kompetenten Fachgenossen gefunden, daß sie von der großen Mehrzahl für ebenso wohl begründet gehalten wird, wie die vorher angeführten phylogenetischen Hypotesen.
Wenn man die ungeheure Masse von Tatsachen überblickt, welche Darwin in seinen Werken mit ebensoviel Vorsicht als Kühnheit zur Stüze seiner Ideen verknüpft hat; wenn man die zahllosen Beobachtungen und Versuche anschaut, die er selbst zu deren Begründung angestellt hat, so erstaunt man über die Kraft des Riesengeistes, der eine solche Fülle von Wissen und Können, von empirischen Kenntnissen und philosophischen Erkennt nissen in dem winzigen Spielraum eines einzigen Menschenlebens zusammengedrängt hat. Unwillkürlich fragt man, welche seltene Konstellation von glücklichen Verhältnissen eine solche außerordentliche Leistung und einen entsprechenden Erfolg überhaupt möglich gemacht habe?
Da ist denn allerdings zuzugestehen, daß sich bei Darwin Verdienst und Glück gleichmäßig verketteten, und daß eine seltene Gunst des Schicksals ihm die volle Durchführung seiner großen Lebensaufgabe ermöglichte. Frei von den Sorgen und Plagen des alltäglichen Lebens, im sicheren Genusse einer behaglichen Häuslichkeit und glücklichen Familienlebens, ungestört durch Berufsgeschäfte und Amtspflichten, konnte er sich ein halbes Jahrhundert hindurch ganz seinen Lieblingsstudien hingeben. Wenn ihn die Isolirung auf seinem stillen Landsize von dem I auten Marktgetreibe der Wissenschaft abschloß, das in großen Städten die besten Kräfte verzehrt, so gewann er dadurch andrerseits um so mehr für die innere Sammlung und Harmonie seiner reichen Gedankenwelt. Nichts ist nach unserer Ansicht der tieferen und ernsteren wissenschaftlichen Arbeit so schädlich, wie das Schulgezänk unserer großen Universitäten und das Parteitreiben