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mittlerweile geworden war, schwang er sich nach kurzem Besinnen auf einen Wagen der Pferdebahn, der gerade vorbei passirte und verließ seinen erhabenen Standpunkt erst nach langer Fahrt am Schönhauser Tor, in dessen Nähe er einen Freund zu besuchen gedachte. Doch mußte er, dort angelangt, eine geraume Weile warten, ehe er des Freundes ansichtig wurde, der ein vielbeschäftigter Arzt war und dessen Wartezimmer Richard, zu seinem nicht geringen Aerger, bis auf den lezten Plaz gefüllt vorfand. Teilnehmend und allen Eindrücken leicht zugänglich, wie er war, fand er anfangs Gefallen daran, seine Umgebung zu mustern. Nachdem er aber eine zeitlang mit steigender Ungeduld wahrgenommen hatte, wie lange es währte, che einer der Hilfsbedürftigen nach dem andern in dem Arbeitszimmer des Arztes verschwand, und da er überdies wußte, daß der Freund sich durch private Beziehungen in der Ausübung seines Berufs nicht stören ließ, warf er sich refignirt auf das Sopha im Schlafzimmer des Freundes und zündete eine Zigarre on, um mit Seelenruhe das Ende dieser unglückseligen Sprechstunde abzuwarten. Endlich hatte sich der Schwarm verlaufen und Richard trat in das Zimmer des Doktors, der über den Schreibtisch gebeugt war, das Chaos zu lichten, welches dort herrschte. Kein anderer als er durfte dies Heiligtum berühren; am wenigsten die profane Hand seiner Wirtschafterin, die troz ihrer langjährigen Dienstzeit noch immer nicht den nötigen Respekt vor den Papieren ihres Herrn besaß und mit ihrer heillosen Ordnungsliebe und ihren konfusen Vorstellungen von dem Wert und Unwert beschriebener Blätter, schon manches Unheil angerichtet hatte. Dafür lebten die beiden auch in einem ewigen Kriege. Der Doktor verzieh der armen Frau ihren fanatischen Ordnungssinn nicht und hatte ihr jede Berührung seines Heiligtums strengstens untersagt. Und die gekränkte Unschuld konnte über diesen Mangel an Vertrauen, der sie- ihrer Meinung nach völlig unverdient traf, nicht hinweg kommen und grollte im stillen dem Himmel, der diesen schreienden Undant ungestraft geschehen ließ. Dabei hing sie mit ganzer Seele an ihrem Herrn und geriet ordentlich in Eifer, wenn in ihrer Gegenwart ein nachteiliges Wort über ihn gesprochen wurde. Und da auch er bereitwillig die unbestreitbaren Vorzüge der guten Seele anerkannte und sie im Vertrauen auf ihre Treue und Klugheit in den internen Angelegenheiten seines Junggesellenlebens mit vollster Freiheit schalten und walten ließ, vertrugen sie sich immer wieder und hatte es fast den Anschein, als könnten die beiden, troz ihres Antagonismus in Sachen der Ordnung, nicht ohne einander leben.
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Der Doktor, der um vieles älter war als sein junger Freund und der mit seiner kaum mittelgroßen, breitschultrigen Gestalt, dem krausen Haar und Vollbart und den scharfblickenden, dunklen Augen, die unter den Brillengläsern energisch hervor blizten, den Eindruck eines gereiften Mannes machte, ließ sich durch den Eintritt des Freundes in seiner Beschäftigung durch aus nicht stören. Guten Tag, mein Junge," rief er ihm entgegen und nickte ihm freundlich zu." Welchem Umstand habe ich das seltene Glück zu verdanken, dich bei mir zu sehen. Verzeih," unterbrach er sich mit einem sarkastischen Lächeln, als Richard eine ungeduldige Bewegung machte,„ ich vergaß deine Nervosität in diesem Punkte. Ich weiß, deine Freunde müssen Gott danken für die unverdiente Ehre deines Besuches und dürfen sich bei Leibe keine Gedanken darüber machen, wenn du es mitunter für gut findest, dich wochenlang nicht um sie zu fümmern."
Richard schüttelte ihm herzlich die Hand.
„ Natürlich!" entgegnete er munter. Ich kann es nicht leiden, wenn Freunde unbequem werden und mich mit Fragen und Vorwürfen wegen meines langen Ausbleibens quälen. Ich habe dann stets die Empfindung, als wollten sie mir, dem sie mit Gewalt nicht beikommen können, einen moralischen Zwang antun, gegen welchen mein Gefühl sich sträubt."
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Und da es so viel bequemer ist, sich von seinen Gefühlen beraten zu lassen als von seiner Vernunft," warf der andere spottend ein,
" Spotte du nur," fuhr Richard ruhig fort, sich behaglich auf einen Sessel niederlassend." Welchen Grund hast du, stolz zu sein auf deine Vernunft? Hast du mir nicht oft genug vorgehalten, daß unsere Organisation nicht unser Werk ist; daß wir denken und tun, wie wir vermöge unserer Entwicklung und der Eindrücke, in denen wir aufgewachsen sind, denken und tun müssen- daß wir also durchaus keinen Grund haben, uns unserer Empfindungen zu schämen, die im lezten Grunde nichts sind als Ausflüsse körperlicher Stimmungen!"
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Der andere sah ihn groß an. Sieh da," sagte er farfastisch." Nun, wo du ihrer zu deiner Rechtfertigung bedarfst, läßt du plözlich die Grundsäze gelten, die du so lange energisch bekämpft hast. Ich entsinne mich noch sehr wohl, wie hart wir eines Tages aneinander gerieten, als ich von meinem ärztlichen Standpunkte aus dem großen Menschenkenner Recht gab, wenn er behauptet, daß die Menschen in ihren Handlungen erscheinen, wie sie sind, daß ein jeder tut, was er nicht lassen kann, und die unausbleibliche Folge seiner Handlungen trägt, und daß wir demnach am besten täten, niemanden zu richten und zu verdammen. Und als ich, der ich aus eigener Anschauung weiß, wie schwierig, ja unmöglich es oftmals ist, die Grenzen menschlicher Verantwortlichkeit zu bestimmen, die natürlichen Konsequenzen dieser meiner Erfahrungen zog und dir eindringlich. zu machen suchte, welche ungeheure Verantwortung auf euren Schultern rüht, die ihr in eurer büreaukratischen Weisheit über Dinge aburteilt, die ihr kaum versteht; als ich behauptete, es gehöre ein gewisses Maß von Leichtsinn dazu, aus diesen innern Widersprüchen ohne Gefahr für die eigene Gemütsruhe herauszukommen: gingst du in deiner sittlichen Entrüstung über meinen schnöden Materialismus so weit, mich der Leugnung aller etischen Prinzipien und eines unfruchtbaren Pessimismus zu beschuldigen, der wie ein giftiger Mehltau die fröhlich aufstrebenden Keime der Wissenschaft und des Lebens vernichte. Und heut, kaum daß ich mit ein paar harmlosen Worten die wunde Stelle in deinem Geiste berührt habe dein überwiegendes Leben im Gemüt, nach einem unserer größten Denker, den Traum mit offenen Augen kommst du mir so weit entgegen?"
Richard hatte den Spott des Freundes so gleichmütig hingenommen, als sei er sich nicht im entferntesten einer Schuld bewußt. Als dieser jezt schwieg und ihn aus Klugen Augen lächelnd ansah, sprang er auf und reckte seine hübsche, jugendliche Gestalt, als wolle er den Sermon des Freundes von sich abschütteln.
" Ach, Burghardt!" rief er übermütig. Und wenn du mich heut des abscheulichsten Verbrechens anklagtest, es würde dir nicht gelingen, mich aus meiner Ruhe aufzustören. Ich bin so ver gnügt, daß ich die ganze Welt umarmen möchte, und sollte nicht einmal imstande sein, mit philosophischem Gleichmut die Bosheiten einzustecken, an welche deine Freundschaft mich nun nachgerade gewöhnt hat!"
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" Ich verstehe," sagte der andere, indem er mit demselben spöttischen, überlegenen Lächeln, das seine weißen Zähne durch das dichte, schwarze Bartgestrüpp hindurchschimmern ließ und sein unregelmäßiges Gesicht einigermaßen verschönte. „ Ein neuer Stern ist im Aufgange begriffen. Darf man, ohne unbe quem zu werden, fragen, welche Schöne sich augenblicklich der vergänglichen Freuden deiner Huldigungen rühmen darf?"-
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Richard lachte laut auf. Dein diagnostischer Scharfblick hat dich diesmal schmählich im Stich gelassen, Teuerster. Ich bin durchaus nicht verliebt, wie du in deiner Weisheit anzunehmen scheinst."
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Wirklich nicht," warf Burghardt ein. Und deine kleine englische Lehrerin?"
Richard errötete leicht. Wie kommst du darauf! Als wenn du nicht wüßtest, daß unser freundschaftliches Verhältnis ganz anderer Art ist."
" Sei unbesorgt, Kleiner," beruhigte ihn der Freund. " Ich bin durchaus nicht neugierig. Und wenn deine zahlreichen unschuldigen Liebesaffären nicht das Schlimme hätten, daß sie dich auf unverantwortliche Weise deinen Studien und dem Ver