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luten Ruhe und Bewegungslosigkeit hinzugeben und die Tätig keit der Verdauungswerkzeuge zeitweise völlig ruhen zu lassen, aber er treibt auch den gesunden Menschen, sich gelegentlich mal vollständig müde zu laufen, ohne zu arbeiten, und nicht wenige Personen, die keine Gewohnheitstrinker sind, treibt er dazu, von Zeit zu Zeit einmal durchzugehen", sich tüchtig zu berauschen oder sonst einen Erzeß zu begehen. Auf der einen Seite neigen wir also dazu, eine möglichst tiefe Herabsezung der körperlichen und geistigen Funktionen herbeizuführen, indem wir uns wagerecht auf das Lager hinstrecken, auf der anderen, wenigstens gelegentlich die volle Leistungsfähigkeit des Körpers in gymnastischen Uebungen, im Ringkampf der Jugend, im Ertragen von Strapazen, im Bergklettern, im reichlichen Genuß geistiger Getränke zu erproben. Allein es handelt sich dabei um mehr als das bloße Erproben der betreffenden Fähigkeit. Indem wir uns abwechselnd der Ruhe und der höchsten Anspannung, der Nerven und Muskeln hingeben und gelegentlich dem höchsten und niedrigsten Luftdruck und Blutdruck in unseren Adern aussezen, erweitern wir offenbar die Leistungsfähigkeit des Organismus und halten ihn gerüstet, den äußersten Anforderungen zu entsprechen. Und das Wohlgefühl, welches wir 3. B. empfinden, wenn wir uns einmal recht ermüdet ins Bett legen, zeigt uns, daß diese Prüfung unserer Leistungsfähigkeit ( event. auch im Vertragen geistiger Getränke) an sich wohltätig und nützlich ist.
Aber hier erfordert eine nicht zu übersehende Einschränkung unsere Aufmerksamkeit. Die intensiven Exzesse können nur dann als nüzlich gelten, wenn sie in größeren Pausen begangen werden, und sie schaden, wenn sie sich schneller wiederholen.
Nach diesen Richtungen hat es mit dem vielgerühmten„ Austoben" der Jugend doch auch seine sehr bedenklichen Seiten. Wie biele unserer Studenten, die auf den Gymnasien sogenannte " Lumina" waren, vertrinken später auf der Universität ihren Verstand vollständig. Aber wenn man gerecht sein will, muß man troz alledem eingestehen, nicht die Exzesse an sich schadeten, sondern nur die allzu schnelle und häufige Wiederholung der selben. Die kleinen Abwechslungen der Lebensweise dürfen und sollen einander sehr oft und regelmäßig folgen, die intensiven bagegen, welche man als Exzesse im engeren Sinne des Wortes betrachtet, werden eine günstige Einwirkung nur dann äußern fönnen, wenn sie seltene und unregelmäßige Unterbrechungen bilden. Wir wissen aber immer noch nicht, wovon die eigentliche sanitäre Bedeutung, die Heilwirkung, welche die Volksmeinung den Exzessen seit so langer Zeit zuschreibt, herrühren könnte. Mit dieser Frage haben sich die Diätetifer ebenfalls schon seit langen Zeiten beschäftigt. Der alte, der Magie verdächtigte Arzt und Entdecker des Weingeistes Villanova( 1235-1312) hat bereits untersucht, wie ein Rausch heilsam werden könne. In seiner Auffassung liegt insofern etwas Wahres, als in dem Erzesse ein Mittel erkannt wird, um einen für die Gefundung geeigneten Körperzustand herbeizuführen. Ein solcher ist der Schlummer sicherlich, allein darin liegt doch nur ein Teil der wahren Erklärung. In neuerer Zeit ist man der Frage bom darwinistischen Standpunkt näher getreten und hat hier unseres Erachtens besonders der Dirigent der Wasserheilanstalt Nerothal in Wiesbaden , Dr. H. Kühne, durch seine Abhandlung über„ die Bedeutung des Anpassungsgesezes für die Terapie" ( Leipzig 1878) zur Anbahnung eines richtigen Verständnisses beigetragen. Die organischen Wesen beſizen im allgemeinen
Die Dienstattefte.( Jllustration S. 249.) Betteln zu müssen, ist schlimm; schlimmer vielleicht aber ist es, um Arbeit betteln zu müssen, besonders wenn man vorher einem Rigorosum unterzogen wird, wie bie alte Köchin mit dem gutmütigen Gesichte auf unserem Bilde. Da einen, ihren Kofferschlüssel in der andern Hand, während die beiden Wird es ein Unglüd für die Dienstsuchende sein, wenn sie von der alten Damen, denen sie sich verdingen will, über ihr Geschick entscheiden. Hochmütigen zu leicht befunden wird? Schwerlich! Aber, an wie viel und fie einen Dienst findet, der sie gegen die bitterste Not schützt!
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wie im einzelnen das Vermögen, sich den verschiedensten Lebensbedingungen nach und nach anzupassen, in ähnlicherweise etwa, wie das Auge imstande ist, mittels kleiner Veränderungen der Brennweite seiner Linse bald nahe und bald ferne Gegenstände gleich gut zu erkennen. Beim Menschen geht diese Anpassungsfähigkeit besonders weit, und es gibt bekanntlich nur wenige Tiere, die gleich ihm in allen Breiten und Meereshöhen ausdauern können. In lezter Instanz sind es offenbar die nervösen Organe, die diese Anpassung bewirken, indem sie z. B. die Körperwärme je nach der äußeren Temperatur reguliren, das Herz stärker arbeiten lassen, wenn der Blutumlauf erschwert ist u. s. w.
Diesen Anpassungsmechanismus sezen wir nun offenbar in Tätigkeit, wenn wir plözlich eine veränderte Zebensweise be ginnen, und die gesammten Körperfunktionen gehen dabei aus dem stabilen und eventuell schädlichen Gleichgewichtszustande in ein labiles Gleichgewicht über, aus welchem begreiflicherweise die Rückkehr in den normalen Zustand leichter ist als vorher, etwa wie man bei gewissen Ortsveränderungen und Verdrehungen einzelner Organe im Körper demselben durch Erschütterungen und andere mechanische Eingriffe Gelegenheit gibt, in die richtige Lage, einem verdrehten Schlosse gleich, zurückzuschnappen.
Im Naturzustande werden Menschen und Tiere schon durch die Not des Daseins, durch den Jahreszeitenwechsel, Witterungsverhältnisse u. dergl. gezwungen, genug solcher heilsamen Abwechslungen in ihre Lebensweise zu bringen, um der künstlichen Veranstaltungen in dieser Richtung entbehren zu können. Bald im Nahrungsüberflusse schwelgend, bald hungernd, heute der stärksten Muskelanstrengung bedürfend und morgen der Ruhe hingegeben, des Nachts der Kälte und am Tage dem Sonnenbrand ausgesezt, sind seine Anpassungsmechanismen stets in derjenigen leistungsfähigen Verfassung, die wir als Abhärtung bezeichnen, vollauf gerüstet, um Schädlichkeiten trozen zu können, welche diejenigen, denen sich der Kulturmensch ausgesezt sieht, weit übertreffen. Dieser jedoch, obwohl sein Leben gesicherter und vielfach sanitätlich vorteilhafter verläuft, sieht sich genötigt, zu künstlichen Veranstaltungen, Leibesübungen, Bädern, Spaziergängen u. s. w. zu greifen, um die Ausgleichungen zu befördern. Dazu sind Arbeitspausen, Sonn- und Festtage, Ferien und Ferienreisen unbedingt erforderlich und trozdem, daß sie die Arbeit unterbrechen, dennoch nationalökonomisch von Vorteil, indem sie die Arbeitsenergie unmittelbar erhöhen und die verforene Zeit bald wieder einbringen helfen. Man gönne daher jedem, und auch sich selber, seinen Sonntag, um auszuruhen und in der einen oder anderen Weise der Natur man könnte ebensogut sagen: der Unnatur einen Stoß zu geben!
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Soweit Carus Sterne! Wir haben wenig mehr hinzuzufügen. Die treffliche Abhandlung begründet das vom darwinistisch- naturwissenschaftlichen Standpunkte, was das Volk in seiner sehr großen Mehrzahl längst gefühlt hat und wonach es immer sein Leben zu führen bestrebt. Der dunkle Drang der Mehrheit aller Menschen bewährt sich in dieser Richtung wieder einmal als besserer Führer und Berater, wie die massenhafte Afterweisheit neuumalgescheiter Philister.
Die alkoholischen Getränke haben wir somit im allgemeinen weder als erschrecklich gefährliche Feinde zu verläſtern und zu verfolgen, noch als fürtreffliche Freunde zu hätscheln und über uns Herr werden zu lassen. Sie sind nichts weiter als brauchbare und sogar notwendige Mittel zu einem in der Natur des Menschen und durch die sozialen Verhältnisse begründeten Zweck!
Kanoldts Iphigenie auf Tauris.( Siehe Jllustration S. 257.) Und an dem Ufer steh' ich lange Tage
Das Land der Griechen mit der Seele suchend, Und gegen meine Seufzer bringt die Welle Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.
Diese Eingangsverse von Goethes hochherrlicher Dichtung„ Iphi genie auf Tauris "( worüber der vorige Jahrgang der„ N. W." einen ausführlichen Artikel gebracht hat), welche zu den herrlichsten Jamben
zälen, die je ein Dichter gebaut, find ganz dazu angetan, den Binsel
des Malers herauszufordern, um das imponirende Gebilde der Phantafie zu verkörpern. Anselm Feuerbach war es gegeben, ein