Rigi Scheidegg führt. So lautet die Sage. Die Prosa dagegen erzählt, daß man bei Beginn des 16. Jahrhunderts auf der Scheidegg ein Häuslein habe bauen wollen, für Molkenkuren oder dergleichen. Die Werkleute, die nach dem Fällen der Bäume am Abend ihre Aerte im Freien hatten liegen lassen, fanden dieselben andern morgens mit Rost überzogen, da der Boden mit Mineralwasser getränkt war. So fand man diese Duelle.
Im Jahre 1689 ward von einem frommen Ratsherrn zu Art auf dem Berg eine Kapelle gestiftet, welche vom päbstlichen Nuntius geweiht wurde, und nun begannen so zahlreiche Wallfahrten, daß dreißig Jahre später eine neue größere Kapelle gebaut werden mußte. Der Ort ward das Klösterli genannt. Noch stieg niemand herauf um des Berges willen, um dessen Aussicht zu genießen. Wer da kam, kam um eines praktischen Zwecks willen zu baden, Molken zu trinken oder Vergebung der Sünden zu erlangen. Die Naturschwärmerei war noch nicht erfunden.
Da schrieb Haller 1729 sein Gedicht„ Die Alpen ", das, wenn auch zopfig und steif genug, doch seine Wirkung, auf die Alpen aufmerksam zu machen, nicht verfehlte und manchen zu einer Wanderung in die Schweiz veranlaßte. Stärker noch wirkte von 1761 an Rousseau durch seinen Roman ,, La nouvelle Heloise", der auf den hohen Naturgenuß in den Alpen hinwies und das ganze gebildete Europa so gewaltig packte, daß die Westschweiz zum gelobten Lande sentimentaler Seelen ward. Mächtig wirfte auch Schillers hohes Lied von der Freiheit, sein Tell, jeder wollte den Schauplaz sehen, und als der Friede in den durch Napoleon beunruhigten Landen wieder hergestellt war, begannen die Wanderungen im großen Maßstab. Jezt wollte man sehen, die Herrlichkeit und Majestät der Landschaft bewundern, den Geist gesund baden im Anschauen des Hocherhabenen und die im Staub und Dunst der Ebenen und Städte gepreßten Lungen in der heilkräftigen Gebirgsluft erquicken.
Die neue Zeit durfte mit ihren Einrichtungen nicht zurückbleiben. Gasthaus wuchs neben Gasthaus hervor, mit den goldherbeischleppenden fremden Rigiwanderern stieg die schweizer Spekulation auf den Berg. Immer zudringlicher wurden die Menschenpygmäen und sie umgürteten endlich sogar den alten Leib des Riesen mit Eisenschienen. Auf ihnen steigt von Süden her die keuchende Berglokomotive hinan und ihr kecker Pfiff erschallt, wo einst in tiefer Weltverlorenheit die drei Schwestern ihr Rindenhäuslein bewohnten. Auch ein Telegraphendrat windet sich um die Felsenrippen, den Hotelherren oben das Nahen von
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Gästen aus aller Welt zu melden. Fünf Hauptaussichtspunkte hat der Berg: Rigi - Kulm, Rigi - Staffel, Rigi - Kaltbad, Rigi Rotstock, Rigi Scheidegg. Hinauf also mit dem Zug, der sich zwischen Rigi - Kulm und Rigi - Rotstock windet. Wie auf einen Zauberwink tut sich die große Landschaft der nördlichen und nordöstlichen Schweiz auf da tönt ein Jauchzen durch jede Seele und gepackt wird bei dieser Schau auch das von der hausbackensten Prosa umkrustete Gemüt. Das ganze große Flach- und Hügelland liegt im hellen Sonnenschein zu unseren Füßen! Wer zählt die leuchtenden Städte und Städtchen, die Dörfer, die sich drunten hinbreiten? Der deutsche Schwarz wald blaut hinüber, die schwäbische Alp, die Berge des Jura und der Vogesen verlieren sich im purpurnen Duft des fernsten Horizonts. In jäher Tiefe glizert der ewig prächtige Vierwaldstättersee. Dort ist Küßnacht ; die blanke Stadt im Seewinkel drin, die sich so lustig in den Wellen spiegelt, ist Luzern , der Pilatus steht ihr zum Wächter. Hügel an Hügel und da zwischen überall blizendes Seegewässer, darüber der blaue Himmel, den goldne Wölkchen durchschiffen. Doch das höchste bietet der Rigi - Kulm, er ist die stolze Hochwacht, die Krone unseres Bergs. Von ihm aus ist der Blick ein unbegrenzter, achtzig Stunden in der Runde, und dem Adler gleich vermag er in kreisendem Fluge von Abend gegen Morgen, von Süd nach Nord zu schweifen; über fünfzig Stunden weit kann er nach einer Seite sich ausdehnen und la Dôle im Jura ist sein äußerstes Ziel. Das alles dann zu schauen im wechselnden Lichte des Tages: wenn der Nebel im Tale dieses wie ein wogendes Meer, die Berge wie dunkle schwimmende Inseln erscheinen laßt, wenn der immer siegreicher vordringende Morgenglanz, der besonders die berner Alpen hervorhebt, die Nebel vertreibt und die Welt zur Freude weckt, wenn im Abendschein die östlichen Berge in sanfter Verklärung aufleuchten, oder blaues Mondlicht von den zahlreichen Scespiegeln heraufdämmert und die Berge wie bläuliche Schatten schauernd im Kreise stehen das ist Naturgenuß.
Die Abstammung des Namens„ Rigi " hat den Etymologen viel Kopfzerbrechen gemacht. Einige leiten ihn von mons rigidus ab( rauher Berg, aber der Rigi ist einer der zahmsten Berge der Alpen ), andere finden die Wurzel in regina montium( Königin der Berge), eine dritte Meinung zieht das alte Wort„, rîhe" oder„, rige", das Lage, Schicht, Reihe bedeutet, zur Erklärung herbei. Wahrscheinlich aber ist Rigi ein altes feltisches Wort, das sich wie viele andere Ortsnamen bis auf unsere Zeit erhalten hat.
St.
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Die Satire der Neuzeit.( Frühere Epoche.)
Bon Dr. Richard Ernst.
In England, woselbst das 16. Jahrhundert ein vielseitiges fast überwältigend reiches Geistesleben entfaltete und einen Dramatiker hervorbrachte, desgleichen kein Volk weder im Altertum noch in der Neuzeit sich rühmen kann, den Giganten William Shakespeare , der in eben dem Grade Universaldichter der modernen Welt ist, in welchem Homer der Universaldichter der antiken war, hatte sich mit dem Verschwinden des„ lustigen Altengland" durch Aufkommen und Mächtigwerden des Puri tanismus auch in literarischer Hinsicht ein bedeutender Umschwung vollzogen. Der seit 1640 entscheidend auf den Kampfplaz tretende Puritanismus hatte bis zur englischen Revolution an der Literatur nur durch teologische Streitschriften, Erbauungsbücher und einzelne religiöse Lieder Anteil gehabt. Sein Sieg, auf politischem Gebiete ein Triumph der Freiheit, war der Poesie nichts weniger als günstig. Dem kirchlich strengen, glaubenseifrigen, zelotischen Puritaner, der die gesellschaftlichen Zustände eines modernen Staats nach den Vorschriften des alten Testaments und den Träumen der Chiliasten mit herber
( Schluß.)
Strenge umzubilden versuchte, erschien selbst das unschuldige Spiel der Phantasie, wie Macaulay sagt, ein Verbrechen, bei dem Anblick lustiger Volkspossen seufzte er im Geiste und er hielt es für Gottlosigkeit, am Weihnachtstage Rosinensuppe zu essen. Die Teater standen verödet, denn sie galten als sittenverderbend, wie denn der puritanische Rechtsgelehrte William Prynne in seinem fanatischen Histriomastix das Verdammungsurteil aussprach über Tanz, Maskenzüge und Schauspielwesen, die er für Werke des Teufels erklärte. Nicht nur auf die dramatische, sondern auf die poetische Produktionslust überhaupt mußte daher das Regiment des Puritanismus lähmend wirken. Bei alledem hat derselbe einen Dichter ersten Rangs gestellt, John Milton , dessen„ Verlorenes Paradies", eine protestantische göttliche Komödie, den gefeiertesten poetischen Schöpfungen aller Zeiten beigezählt werden darf. Die vom weltlichen Gebiete verdrängte Muse flüchtete auf das teologische Feld und wenn auch das teologische Element mannichfach den Genuß der Dichtung stört, so enthält dasselbe doch zahlreiche Partien von wunder