greisen Handwerkers bestand, war es ihm nicht in den Sinn gekommen, daß die Unbekannte, die er vor dem sichern Tode errettet hatte, die verloren geglaubte Tochter des Alten sein fönne. Im Laufe der Jahre war die Erinnerung an sein nächt­liches Abenteuer in seinem vielbeschäftigten Geiste fast zurück­getreten und nur auf Augenblicke noch gedachte er des schönen Mädchens, das in seiner lebensmüden Verzweiflung einen tieferen Eindruck auf ihn gemacht hatte, als ihm selbst je zum Bewußt sein gekommen war. Und dann das Schicksal eines armen, betrogenen Mädchens ist heutzutage kein so ungewöhnliches, daß

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das Gemeinsame in den Schicksalen der beiden ihn mit Not­wendigkeit auf eine solche Vermutung hätte leiten sollen.

Nun hatte er ohne Wissen und Wollen die lange Gesuchte wiedergefunden. Und wie er jezt, in Gedanken versunken, durch die Straßen dahinfuhr, trat die Erinnerung so deutlich vor seine Seele, daß er zu seiner Verwunderung jedes kleinsten Umstandes aus jener Nacht gedachte, und den blonden Kopf, wie er in dem ungewissen Lichte der kleinen Nachtlampe in rührender Schönheit aus den Kissen emportauchte, mit Händen zu greifen meinte. ( Forts. folgt.)

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Bilder aus Rußland  .

( Siehe Illustration S. 321.)

Wenn man einen Eierkuchen machen will, so muß man die Eier zerschlagen," sagte der russische Polizeiminister und Ver­schwörer Graf Pahlen in jener denkwürdigen Nacht, welche den Zar Paul aus der Liste der Lebendigen strich und Alexander I.  auf den Tron seiner Väter half. Diese Art Palastrevolutionen, woran die Geschichte Rußlands   so reich ist, erinnert an den franken Mann" am Bosporus  , dessen Geschick mit dem Ruß­ lands   manche Aehnlichkeit besizt. Hier wie dort sind sehr viele Eier zerschlagen worden, ohne daß die Eierkuchen sich eines besonders guten Geschmacks erfreuten aber frank bis ins Mark sind beide einst so mächtige Staaten geworden. Die viel hundertjährige Barbarei in dem fast unbegrenzten Reiche unseres Nachbarn im Osten hat die wunderlichsten Zeitblüten hervor= gebracht. Das westliche Europa   hat in dem lezten Jahrhundert mit gewaltiger Kraft an seiner Wiedergeburt gearbeitet; unter Mitwirkung der großartigsten Erfindungen und Entdeckungen aller Zeiten streifte es seine alte Formen ab und zog das ge­fammte Volk heran zur Mitwirkung an der vom humanistischen Geiste beseelten Kulturarbeit, in der richtigen Erkenntnis, daß zur Erreichung der hohen Ziele, welche sich die Menschheit zu stecken berechtigt ist, kein Glied der staatlichen Gemeinschaft fehlen darf. Rußland   blieb während dieser Epoche fast unbe­rührt von dem hohem Geistesfluge seiner westlichen Nachbarn. Die Versuche, die westeuropäischen Ideen auch in Rußland  hineinzutragen, wurden von dem eisernen Absolutismus unter­drückt, und Kerker und Sibirien   waren die Antwort auf For­derungen, die in der gesammten Kulturwelt bereits Fleisch und Blut geworden waren. Darf es uns da wundern, daß der Nihilismus einen gut vorbereiteten Boden fand? Es ist hier nicht der Ort, das Wesen dieser Erscheinung zu erörtern, zweifel­los ist aber, daß der Nihilismus nur in dem Streben der höheren Gesellschaftsschichten, an der Regierung teilzunehmen, seinen Stüzpunkt findet, die breite Masse des Volks hat absolut damit nichts zu tun. Die Gewährung einer Konstitution würde den Nihilismus sofort in sein Nichts zurückſinken lassen. Ob eine solche Wendung der Dinge heute aber noch genügt, um Rußland   in den Kreis der modernen Staaten zu ziehen, bezweifeln wir. Rußland wie die Türkei   haben ihre Rollen ausgespielt, wenn auch ihr Verschwinden aus der Reihe der Weltmächte nicht ohne gewaltige Zuckungen vor sich gehen wird. Die Expansionskraft der germanischen Rasse ist eine so bedeu­tende, das Interesse an der Selbsterhaltung, oder, um einen geläufigeren Ausdruck zu gebrauchen, der Kampf ums Dasein ist so intensiv, daß alte, morschgewordene Staatengebilde, die nun einmal das Versäumte, sei es aus Mangel an Karakter oder wirklicher Lebenskraft nie wieder nachholen können, zu­sammengeschoben werden, um anderen, lebensfähigen Organi sationen Blaz zu machen. Rußland   ist in der heutigen Zeit eine grelle Dissonanz, die von einem der besten russischen Dichter, A. Puschkin  , in folgenden Strophen farakterisirt wird:

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Wenn man in Freiheit ließe mich, Wie ausgelassen eilte ich

Fort in den dunklen Wald.

Ich sänge in des Wahnsinns Glut, Bergäße selbst mich in dem Sud Verworrner Träume bald.

Start wäre ich, frei wäre ich, Sowie der Sturm, der wütend sich Durch Feld und Wald bricht Bahn.

Und lauschte lang dem Flutgeroll Und starrte dann des Glückes voll Denn leeren Himmel an!

Doch nun zu einem freundlicheren Bilde. Ende September pflegt sich bereits in Rußland   der Winter einzustellen. Morgens ruht oft noch blendender Sonnenschein auf den grünen Gefilden und laubbedeckten Bäumen; da, plözlich fegt ein kalter Wind durchs Dorf, besorgt schaut der Bauer gen Osten, und ent­deckt am Horizont eine graue Wolkenschicht, die mit rasender Eile herannaht. Bedächtig schlägt er ein Kreuz und sieht nach Scheune und Stall, weiß er doch, daß der gestrenge Herr, der in Rußland   bekanntlich sehr lange regiert, der Winter, heran­naht. Wenige Stunden genügen, um alles in ein weißes Schneegewand zu hüllen; die langsam erstarrende Erde begibt sich auf sieben Monate zur Ruhe. Wenn der Winter dem russischen Bauer auch manche Entbehrungen auferlegt, so weiß er im großen und ganzen sich doch recht gut mit ihm zu stellen. In der Vorratskammer seiner Jsba( Hütte) sind die Winter­vorräte gar mancher Art aufgestapelt. Kohl, Grize und Mehl reichen bis zur nächsten Ernte aus, um sein Leben und das seiner Familie in der dem russischen Bauer eigentümlichen an­spruchslosen Weise zu fristen. Tag aus Tag ein bilden Schtschi ( Kohlsuppe) und Kascha( Buchweizengrüze) nebst Brod seine Nahrungsmittel; dazu gesellt sich an Sonn- und Feiertagen der nie fehlende Pirog, eine mit Fleisch, Eier, Fisch oder Kohl gefüllte Pastete, auf deren Zubereitung sich jeder Russe meister­haft versteht. Hat er das Glück, daß sein Dorf in der Nähe einer der vielen sehr fischreichen Flüsse liegt, so wird er gewiß eifrig angeln. In seinem Schafpelz und großen Filzstiefeln ist er genügend gegen die Kälte geschüzt, um einige Stunden auf dem Wasser aushalten zu können. Unsere Illustration zeigt uns einen russischen Bauer, der mit seinem hoffnungsvollen Sprößling bemüht ist, dem nassen Elemente ein leckeres Gericht Fische abzugewinnen. Der Winter hat soeben begonnen, des­halb geht er rasch ans Werk, ehe sich der Fluß mit einer undurchdringlichen Eisschicht bedeckt. Der Zeichner, mit den Gewohnheiten des russischen Volkes wohl vertraut, sezt dem Bauer nicht die tückische Schnapsflasche vor, sondern versieht ihn mit einem Kessel heißen Tee, den jeder Russe leidenschaftlich gern trinkt.