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Was man meint und wie man urteilt.

Eine Plauderei von Bruno Geiser.

Glaube nicht allzu schnell, nicht keinem, nicht allen, nicht alles! Forsche, vergleich, erwägs; finde die Wahrheit heraus.

Laßt euch nicht verblüffen von dem Neuen! Das ist eine Mahnung, so beherzigenswert als die beste sonst.

Das Neue ist an sich weder besser noch schlechter, als das Alte. Alles ist einmal neu gewesen, alles wird einmal alt sein; alles ist schon oft nen und schon oft alt erschienen und gewesen im ewigen Wechsel und in der unaufhörlichen Wiederkehr der Dinge.

So sind denn die Fanatiker des Neuen nicht minder Toren, eben solche Feinde menschenwürdigen Urteilens und vernünftigen Handelns, genau dieselben Hindernisse auf dem Wege des Wahren, wie die Kezerrichter und die gemeinen Zeloten des

Alten.

Aber auch genau so leicht erklärlich und entschuldbar, wie die blinde Vorliebe für das Alte bei den einen, ist die Affen liebe der andern für das Neue.

Wem die Dinge, wie sie unter der Herrschaft des Alt­hergebrachten geworden sind, ein glänzend oder zum mindesten erträglich gut ausgestattetes Nest bereitet haben, warum sollte er kein Freund des Alten sein? Warum sollte er es nicht ver­teidigen und erhalten wünschen?

Und was hätte jener für Ursache, nicht krampfig nach allem Neuen zu greifen, dem das Alte nichts zu verlieren übrig gelassen hat, der sich beengt, in seiner geistigen Entwicklung gehemmt, in seinem sinnlichen Behagen beeinträchtigt fühlt durch das, was ist, oder gar der, der im und am Bestehenden, historisch Gewordenen elend Schiffbruch gelitten hat und sich erbarmungslos dem Elend preisgegeben sieht? Her mit dem Neuen nur rasch her damit! Ein schwankes, morsches Brett, mit dem die Wellen ihr Spiel treiben, eine wieviel bessere Basis für die notdürftigste Fristung der Existenz eines Ge­scheiterten ist es doch, als das unergründliche uferlose Welt­meer selbst!

So leicht erklärlich und so entschuldbar bei den meisten Einzelmenschen beides ist, so verhängnisvoll, so unheilschwanger hat es sich auch bewährt für die Menschheit und den Ent­wicklungsgang ihres Geistes.

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Weitaus die meisten Meinungszwiste, Stammesfehden und Völkerkriege, die weltlichen Händel und die Religionskämpfe, die Kezerverfolgungen und die Herenverbrennungen, die Refor­mationskrisen und die Revolutionsorgien, die Feindseligkeiten politischer und unpolitischer Parteiſucht, all das wäre ent­weder unmöglich gewesen oder unschädlich, sicherlich unblutig und im höchsten Grade kulturförderlich verlaufen, wenn die einen nicht als blindwütige Schildknappen für das Alte, das sie fälschlich für das unbedingt Gute hielten, und die andern nicht als berserkernde Parteigänger des Neuen, das ihnen ebenso fälschlich als das unbedingt Bessere erschien, in den Kampf, schmachvoll oft in den Kampf bis aufs Messer und um Gut und Leben gezogen wären.

Die ungeheuerlichste Narrheit, das verruchteste Verbrechen oder Laster vermag Anhänger, gutgläubige, begeisterte Anhänger um sich zu sammeln, freiwillige Opfer. Qualen und Tod trozende Märtyrer für sich ins Feuer zu schicken, wenn es sich mit dem gleißenden Mantel des Neuen bestechend zu drapiren versteht.

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Aus der Entwicklungs- und Ausbreitungsgeschichte aller Religionen wären die großartigsten Beispiele für diese Be­hauptung anzuführen, aber wir brauchen nicht ins Weite der Kulturgeschichte hinauszuschweifen, um Belege dafür zu finden, wir können in der neuesten Zeit und in unserer nächsten Umgebung bleiben, um mit Händen zu greifen, wie wahr das ist.

( Schluß.)

Ein besseres Beispiel, als es der moderne Spiritismus liefert, ist kaum in der ganzen Weltgeschichte zu finden. Was fann es abgeschmackteres geben, als den Gedanken, die Geister" der Abgeschiedenen würden uns durch Tischrücken, Klopfen, Stoßen, Puffen, durch allerlei Schabernack und Narretei ihre Existenz zu beweisen suchen? Was für eine Riesenportion von Dumm gläubigkeit braucht ein Mensch, um sich angesichts der ganz erstaunlichen Geistlosigkeit, ja Albernheit der Mitteilungen, welche bisher aus dem Reiche der spiritistischen Geister zu uns ge­drungen sind, und troz der vielfachen Entlarvungen, mediumisti­scher" Schwindler seine Ueberzeugung, an dem gegenwärtig grassirenden Spiritismus sei irgend etwas wesentliches wahr, unberührt zu erhalten. Und dennoch ist der Spiritismus feines­wegs im Absterben! Dennoch hat er millionen von Anhängern, begeisterte, ehrliche, kindlich und kindisch fromme Anhänger! Dennoch ist er fähig, propagandistisch bald in diesem, bald in jenem Lande, jenseits und diesseits des Ozeans vorzu­dringen!

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Der Spiritismus tritt eben den meisten Leuten als etwas Neues entgegen, etwas, was die bisherigen landläufigen An­schauungen strikte auf den Kopf stellt. Bisher glaubte man zwar auch- dank tiefsteingewurzelten religiösen Wahnvor­stellungen daran, daß aus den Menschenleibern beim Sterben der Geist" ausfahre, aber man plazirte die Geister in ein besseres" Jenseits, allwo sie als Engel eine höchst angenehme, aber für ein menschliches Hirn nicht deutlich auszumalende Ewigkeitsexistenz führen sollen. Höchst selten, meinte man, spuke so ein Geist als Gespenst- auf der Erde herum, meist zur Strafe für ganz besondere Sünden", und noch viel seltener bildete sich einmal ein lebender Mensch mit leidlich gesunden Sinnen ein, mit solchem Gespenst zusammengetroffen zu sein oder irgendwelche Anhaltspunkte für des Gespenstes Existenz entdeckt zu haben.

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Der Spiritismus verlegte den Himmel auf die Erde, machte die irdische Atmosphäre zur Geisterheimat, entdeckte, daß die Gespenster uns beständig umschweben und umweben, daß sie ein unbändiges Vergnügen daran finden uns anzurempeln, uns zu ohrfeigen und sonstwie zu malträtiren, Harmonika zu spielen, Trommeln zu schlagen, Trompeten zu blasen überhaupt nervenzerreißenden Höllenspektakel zu machen, dann Bindfaden­fnoten zu lösen, auf Schiefertafeln zu krizeln, Tische in der Luft spaziren zu führen und was dergleichen jammervoller Beitvertreib mehr ist. Diese Entdeckung spiristischer Mediums war zwar weder interessant noch erfreulich, sie hatte gar keinen weiteren Vorzug, als daß sie neu war wirklich funkel­nagelneu, denn meines Wissens für so schauderhaft läppisch, als wie sie uns dieser moderne Spiritismus enthüllt hat, sind die Geister der Abgeschiedenen niemals zu keiner Zeit und bei keinem Volke, was die Erde getragen hat, ge= halten worden, und weil diese Entdeckung so erstaunlich neu war, wurde sie geglaubt und wird sie noch gar manchen Gläubigen finden.

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Wie im gemeinen Leben, wo der Spiritismus seinen Unfug treibt, geht es aber auch im wissenschaftlichen und politischen Leben. Wenn das Neue nicht seine diabolische Macht geübt hätte, wäre meiner Ansicht nach z. B. die gesezliche Einführung des Impfzwanges in Deutschland   unmöglich gewesen. Zwar hat die Praxis der Impfung schon ein respektables Alter erreicht, aber die Idee, ein ganzes Volt, und zwar das sogenannte Volk der Dichter und Denker, zwangsweise mit Pockenlymphe einzu­seuchen, war ebenso fühn als neu. Darum nur zog sie so mächtig, mächtig, diese für unsere angeblich so freiheitslüsterne Zeit wirklich verzweifelt kuriose Idee!

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Und wie einfach und glatt wickelte sich die gesezliche Ein­führung der Zwangsimpfung ab!