Die Lene Sell
№o 22.
Illustrirtes Unterhaltungsblatt für das Volk.
Erscheint alle 14 Tage in Heften à 25 Pfennig und ist durch alle Buchhandlungen und Postämter zu beziehen.
Böse Zungen.
Novelle von A. Titus.
Die Geschichte, die wir erzählen wollen, ist eine sehr einfache, und deshalb erzählen wir sie, denn gerade ihre Einfach heit wird die Bürgschaft für ihre Wahrheit sein.,
Wer könnte ermessen, wieviel Unheil böse Zungen schon angerichtet haben! Die Weltgeschichte ist voll von ihren infernalischen Wirkungen. Und doch kennt sie nur die bösen Zungen in großen Zügen, im glänzenden Palast und in der wildbewegten Masse. Welche Verheerungen die bösen Zungen aber in der bescheidenen Hütte, im trauten Schoß der Familie anrichten, kommt nie ans Tageslicht. Es ist vielleicht gut, daß man von dieser Riesensumme von Unglück nie erfährt.
Daß die bösen Zungen so mächtig sind, liegt weniger in der Stärke der üblen Nachrede, als in der Schwäche der Menschen überhaupt. Nicht jede Menschenbrust ist geschüzt durch den goldenen Harnisch , den sich der Dichter anlegte mit den
Worten:
Wenn dich die Lästerzunge sticht, So laß es dir zum Troste sagen: Die schlechtsten Früchte sind es nicht, Woran die Wespen nagen"
und von dem die Pfeile der hämischen Verleumdung auf den Schüzen zurückprallen.
Der brave Doktor der Philosophie, Ambrosius Gerlach, hatte in seiner Harmlosigkeit niemals gedacht, daß er in eine Lage kommen könne, wo er dieses goldenen Harnisches benötigt sei. War doch sein Leben still und friedlich dahingeflossen gleich einem leise murmelnden Wiesenbächlein, dem niemand gram sein kann, weil es niemand etwas zu Leide tut. In der Kleinen norddeutschen Seestadt, wo seine Eltern gewohnt, hatte er das Gymnasium besucht; dann hatte er die Universität Göttingen bezogen und war nach beendeten Studien wieder nach seiner Baterstadt zurückgekehrt. Der Doktor Ambrosius, wie ihn seine Freunde traulich nannten, mochte jezt etwa siebenunddreißig Jahre alt sein. Er war Junggeselle, durch sein Vermögen gänzlich unabhängig und hätte vielleicht gar keine üble Erscheinung abgegeben, wenn er nicht jene professorenhafte Selbstbernachlässigung an sich gehabt hätte, die man so häufig bei
1883
Professor, der im alten Rom und Athen jede Straße kannte, aber in seiner Vaterstadt sich regelmäßig verirrte. Doktor Ambrosius bewunderte die Reize Ariadnes, der schönen Helena, der mediceischen Venus, aber seine schönen Zeitgenossinnen von Fleisch und Bein schien er gar nicht zu sehen. Er würde auch schwerlich wie Dr. Faust seine Seele dem Teufel verschrieben haben, um sich mittels des Zauberbuches„ Höllenzwang" die schöne Helena herbeizuschaffen. Er kannte nur die schöne künstlerische Form; vom„ ewig Weiblichen" schien er nichts zu wissen. Er schrieb dicke Bücher, die man in der kleinen Stadt, wo er wohnte, gar nichts las. Man wußte nur, daß er„ ein schwer gelehrter Mann" war.
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Punkt neun Uhr Abends erschien er in dem Bierlokal, das er sich zum Stammsiz erwählt hatte. Es schlug ihn herein," wie seine Bekannten sagten. War sein Plaz von Fremden besezt, so kehrte er wieder um und ging ärgerlich nach Hause. Im anderen Falle trank er bis elf Uhr zwei Glas Bier, aber keinen Tropfen weniger oder mehr. Schlag elf Uhr verschwand er. Das alles geschah mit der Pünktlichkeit einer Uhr. Sonst bekam man ihn selten, höchstens auf einsamen Spaziergängen, zu Gesicht.
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„ Aber auch aus entwölfter Höhe kann der zündende Donner und so geschah das Unerhörte, daß Doktor Am= schlagen" brosius eines Abends am Stammtische fehlte, ohne daß ein sichtbarer Grund vorlag!
Der Physikus schüttelte den Kopf, der Apoteker zuckte die Achseln und der Bürgermeister nahm bedächtig eine Prise.
Das alles half aber nichts, denn Doktor Ambrosius kam auch am folgenden Tage nicht und am dritten erst recht nicht. Er fehlte schon über vierzehn Tage und man hatte ihn fast vergessen
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da eines Abends traten die Mitglieder der von
Doktor Ambrosius so schmählich verlassenen kleinen Tafelrunde mit Zeichen hoher sittlicher Entrüstung und in außergewöhnlich würdevoller Haltung zu auffällig früher Stunde in die Bierstube.
" Unerhört!" sagte der Bürgermeister im Vollgefühl seiner Autorität.
" Das wird einen Skandal geben," sezte händereibend der Gelehrten findet. Mit den Frauen ging es ihm wie jenem Apoteker hinzu, der als Liebhaber von Skandalen bekannt war.
Nr. 22, 1883.