Die Gene Sell

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Illustrirtes Unterhaltungsblatt für das Volk.

Erscheint, alle 14 Tage in Heften à 25 Pfennig und ist durch alle Buchhandlungen und Bostämter zu beziehen.

Böse Zungen.

Novelle von A. Tifus.

Auf einen klaren und selbständigen Geist hätte diese alberne Fabel von der Lady und dem Reitfnecht gar feinen Eindruck machen können; ein Mensch ohne Klassenvorurteile kann sich auch fein spaßhasteres Frauenzimmer denken, als ein solches, das sich bei der Wahl seines Geliebten bestimmen läßt durch die Form von dessen Händen oder durch seine Art zu essen. Aber Doktor Ambrosius war eine weiche und lenkbare Natur und die Frage des Bildungsunterschiedes hinterließ einen tiefen Eindruck bei ihm. Er fühtte zwar, daß er sich von einer unheil­vollen Gewalt, von einer bösen Zunge auf einen falschen Weg habe drängen lassen; er flammerte sich an hervorragende Vei­spicle, um die bösen Gedanken zu verscheuchen. Er hielt sich vor, daß der Abstand zwischen Goethe und seiner schönen Christiane Vulpius ein weit größerer gewesen, als zwischen dem Doftor Ambrosius Gerlach und seiner Meta; er dachte an die Matilde Heinrich Heine's; an die Tochter des Schiffers Rickers aus Emmerich , die als Gräfin Wartenberg eine zeitlang in Preußen allmächtig war; er erinnerte sich, daß die vertraute Freundin Talleyrauds von dessen aristokratischer und diploma­tischer Bekanntschaft als ungebildet verschrieen wurde und doch dem geistreichen Diplomaten genügte; er hielt sich vor, wie glücklich der Herzog Albrecht von Baiern mit der schönen und unglüdlichen Baderstochter Agnes Bernauer gewesen, und die blonden Flechten seiner Meta stauden nicht sehr hinter dem be­rühmten Hauptschmuck jener Agnes zurück.

Allein es gelang dem Doktor doch nicht, sich an diesen historischen Figuren emporzurichten. Die Schlange im Innern fraß an seinem Herzen und seine bis dahin so sonnige Laune schwand, seine Seiterkeit versiegte. Er erschien mit düsterer Stirn und unſtätem Blick. Manchmal legte er sich die Frage bor , ob er nicht doch fuabenhaft vorschnell gehandelt, als er sich so ohne weiteres mit dem Dienstmädchen verlobte! Aber hatte er sie nicht lange Zeit hindurch beobachtet und gab nicht die Brautzeit erst recht Gelegenheit, sie kennen zu lernen? Er hatte ihren Karakter tadellos gefunden; sie war bescheiden, lieb­reich, hingebend, sittsam und fleißig. Sie verstand allerdings weder französisch noch englisch zu radebrechen, noch auf dem Klavier zu flimpern; auch mochte sie die Feder nicht gewandt

1883

führen und ein mangelhaftes Deutsch schreiben; Philosophie und Nationalökonomie waren ihr sicherlich böhmische Dörfer. Allein sie verstand es ebenso gewiß, einem Manne ein behagliches und gemütliches Heim zu bereiten und zu erhalten, ihm die Sorgen von der Stirne zu scherzen und ihm, mit dem Dichter zu reden, Rosen auf den Pfad zu streuen. Niemand wird bestreiten, daß das Weib am begehrenswertesten ist, welches alle Vorzüge nach beiden bezeichneten Richtungen befizt. Aber wo findet man ein solches? Die Erziehung unserer Frauen ist in der Wohlhaben heit nicht minder einseitig als in der Armut; nach welcher Seite hin man wählt ,, ist eine Sache der Neigung und des Geschmacks. nichts aber ist verfehlter, als wenn man bei solcher Wahl die Klassenvorurteile entscheiden läßt. Das Glück eines Menschen­paares tann nicht durch die künstlich verhärteten gesellschaftlichen Unterschiede bestimmt werden; ein törichteres Unterfangen fann es faum geben.

Das wußte der Doktor Ambrosius ungefähr, wenn er sich auch nicht ganz klar in der Sache war, aber der Wurm nagte an ihm. Meta bemerkte gar bald sein verdüstertes Aussehen; sie fühlte eine gewisse Erkältung bei ihm plazgreifen. Sie schwieg und vergoß heimlich Tränen. Auch der Doktor schwieg. Er brachte es über sich, darüber nachzudenken, ob es nicht besser wäre, Meta den Verlobungsring zurückzusenden. Allein er war ein ehrenhafter Mann und wußte, daß sein Zurücktreten demi Mädchen für das ganze Leben einen Makel anheften werde.

Die arme Meta war feine glückstrahlende Braut mehr. Am Abend vor der Hochzeit trat sie ihrem Bräutigam entgegen, der ernst und schweigsam am Fenster stand.

Ambrosius," sagte sie mit zitternder Stimme, du bist nicht mehr wie früher." Und eine Träne fiel verstohlen auf ihren wogenden Busen.

Er sah sie unwirsch an. Wie so?"

Es kommt mir vor," sagte sie schluchzend, als ob du mich nicht mehr liebtest wie früher."

"

Du irrst dich, Meta."

" Du sagst das so falt, so geschäftsmäßig, Ambrosius. Ich werde dich immer lieben; wenn du aber nicht mehr glaubst mit mir glücklich werden zu können, dann sag' es. Heute ist

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