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Die lezten Reste des alten Preußen verschwanden mit ihrer Sprache erst im 16. Jahrhundert. Die Litauer und Masuren konnten nur sehr langsam zurückgedrängt werden, und ein respektabler Teil hat sich mit der alten Sprache bis auf diesen Tag behauptet. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts croberten die Polen einen großen Teil des Landes; ihre Herrschaft dauerte über 300 Jahre, und ihre Sprache lebt dort noch heute. Alle die grundverschiedenen Sprachen und Dialekte haben von einander angenommen und an einander abgegeben. Die von Anfang an fortschreitende Sprache war Deutsch ( Plattdeutsch), und bereits seit Jahrhunderten ist sie die herrschende. In den gebildeten Klassen hat sich hier früher als in anderen Gegenden Norddeutschlands das Hochdeutsch oder vielmehr Schriftdeutsch eingebürgert. In dem Deutsch , wie es das Volk spricht, und zumteil auch in dem der gebildeten Klassen, finden sich Idiotismen aus den entlegensten Zonen Deutsch lands( z. B. Baiern, Hessen , der Nordseeküste), Reste von der Sprache der alten Preußen, Lehnwörter aus dem Litauischen, Masurischen ( einem Dialekte des Polnischen ) und dem Hoch polnischen". Dazu kommt noch, daß in dieser fernen„ Ostmark", welche immer nur in einer sehr losen Verbindung mit dem großen deutschen Reiche stand, sich ziemlich eigenartige, von den slavischen Elementen stark beeinflußte Anschauungen, Sitten und Bräuche entwickelten und in der Sprache zum Ausdruck kamen. Man wird demnach ermessen können, wie viel Eigentümliches das„ Preußische Wörterbuch" dem Sprachforscher und Kulturhistoriker zu bieten vermag. Ein paar Beispiele mögen das Gesagte bestätigen.
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Die Gemeinde- Vorsteher( Schulzen) haben seit Jahrhunderten einen Krummstab, der Kriwule heißt.( Die zweite Silbe wird betont und lang gesprochen). Das Wort stammt von dem litauischen„ friwar"," freiwar"= frumm; im Polnischen gibts ein ähnliches Wort. Der Geschichtsschreiber Joh. Vogt leitete es wohl mit Unrecht von„ Griwe", dem Oberpriester der alten Preußen, ab. Nicht irgend welcher Stock darf als Kriwule benuzt werden, sondern man wählt dazu eine eigentümlich geformte, verschlungene Baumwurzel, oder in deren Ermangelung einen von zwei Nebenästen in Schlangenform umwundenen, dem Merkurstabe ähnlichen Stock. Soll eine GeSoll eine Gemeindeversammlung stattfinden, so wird die Kriwule im Dorfe umber gesendet. Der Turnus für den Umgang steht genau fest, und es sendet den Stab Nachbar zu Nachbar, bis er wieder in das Schulzenamt zurückkehrt. Ins Haus gebracht darf der Stab nicht werden; der Träger flopft nur an die Tür, meldet, daß die Kriwule da sei und lehnt sie an die Wand; sie muß sofort weiter befördert werden. Gewöhnlich ist jezt auf einem angebundenen Zettel der Gegenstand der Beratung vermerkt; sind in der Versammlung Zahlungen zu leisten, so deutet dies in einigen Gegenden ein umgewundener Leinwandlappen, in anderen ein angebundener Knopf an. Nach dem Stabe werden die Gemeinde- Bersammlungen Kriwule( auch Krawul, Krawol, Krawa, Krewulle) genannt. In manchen Gegenden nennt man überhaupt alle Zusammenkünfte, namentlich zu Spiel und Unterhaltung, Kriwul. Man geht in die Kriwul, man fommt aus der Kriwul. In Ponimerellen heißt der Krummstab„ Klucke", und zwar gibts da eine große und eine kleine Klucke; die große wird herumgeschickt, wenn Bauern und Knechte zusammen kommen sollen, die kleine, wenn die Versammlung nur die Bauern betrifft. In neuerer Zeit wird in deutschen Dörfern die Kriwule,„ Schulzenstab"," Schulzenzeichen"," Dorfknippel" geDa der mit christlich- germanischen Ideen sich viel pla gende König Friedrich Wilhelm IV. - aber das erzählt nicht Frischbier, sondern ich füge es hinzu auch der Meinung war, daß„ Kriwule" eine Erinnerung an den heidnischen Oberpriester sei, so fühlte er sich berufen, dieses Aergernis aus der Welt zu schaffen. Aber dem Verehrer romantischer Schrullen gefiel der Stab und die Art und Weise, wie er gebraucht wurde. Anfangs der fünfziger Jahre verordnete er oder ließ verordnen, daß jede Gemeinde ihrem Schulzen einen langen Stock mit dickem silbernen Knopf anschaffe, derselbe solle„ Schulzenstab"
nannt.
Die
heißen und an Stelle der Kriwule gebraucht werden. Bauern waren deswegen sehr ärgerlich über den König; aber es half ihnen nicht: die Landräte ließen die„ Schulzenstäbe" anfertigen und die Schulzen mußten sie nehmen und die Gemeinden bezahlen. Ich glaube, sie kosteten vier oder fünf Mark. Aber was geschah? Ein paar Jahre wurden die„ Schulzenstäbe" gebraucht, dann verschwanden sie und man suchte wieder die Kriwule hervor. Vor einigen Jahren entdeckte ich in einem alten Schulzenhause den Schulzenstab mit silbernem Knopfe auf dem Boden unter dem alten Eisen. Und der König? fragte ich lachend. Der Schulze antwortete nicht und stieß mit dem Fuße das alte Eisen in die düstere Ecke zurück.
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Wenn gewisse Wörter häufig und bei verschiedenartigen Gelegenheiten gebraucht werden, so kann man daraus entnehmen, daß alte, gefestete Verhältnisse des Volkslebens, daß besonders soziale Zustände in denselben Ausdruck finden. So ist die Provinz Preußen durch ihre Armut bekannt; die Arbeiter, namentlich die auf dem Lande, haben sich zu allen Zeiten äußerst dürftig einrichten müssen. Wörter und Redensarten, welche diese Armseligkeit bezeichnen, werden mit einer gewissen Vorliebe und oft mit gutem Humor gebraucht. So werden Lappen, Lumpen, Plundern allgemein„ Koddern" genannt, wahrscheinlich nach einem litauischen Worte. Aber auch Kleidungsstücke, und nicht nur schlechte und zerrissene, bezeichnet man als „ Koddern". Man sagt, die Koddern sind schwer zu verdienen, man muß sie schonen; denn auch Koddern gehen zu Schanden, d. h. werden leicht beschädigt, brauchen sich auf. Ist man in Kleidern und Wäsche zurück gekommen, so ist man abgekoddert". Ein armer Mensch wird halb verächtlich, halb mitleidig ein Kodderlapp" genannt und, wenn er dabei ein Liedrijan ist, „ Kodderlaps"," Koddrijan"," Kodderniski",„ Kodderlakai", „ Kodderlapp von Zoldap". Er ist verkoddert und verloddert". Wer sich mit Wäsche und Kleidungsstücken neu versehen, hat sich wieder„ befoddert". Ein mit Flitterstaat aufgepuztes Frauenzimmer heißt„ Kodderpuppe". Kinder machen sich gern Kodderpuppen, d. h. Puppen aus allerlei Lappen. Kodder nicht dran!" ruft man Kindern zu, wenn sie an Tüchern und Kleidern zupfen und reißen.„ Kodder mich nicht so!" sagt das Mädchen, namentlich wenn sie im Sonntagsstaat ist, zum Busschen, wenn dieser mit seiner Zärtlichkeit etwas stürmisch wird. Da Hiebe zunächst aufs Kleid fallen, so heißt auf die Koddern kriegen" Schläge oder doch Schelte bekommen, und einem die Koddern voll hauen" ihn tüchtig durchprügeln. Man„ koddert" sich mit einem, wenn man mit ihm zanft und streitet, aber nicht um jede „ Kodderei"( Kleinigkeit, Lumperei) macht man sich Feindschaft. Wo Armut, Elend herrscht, ist die Kodderei groß zu Hause". " Dem Koddrigen kommt der Wind immer von vorne." " glänzende Elend" ist„ eitel Kodderei". Den heruntergekom menen Adel,„ der sich auf sein bloßes Von zu steifen roh genug ist", nannte der königsberger Philosoph K. Rosenkranz „ Kodderadel". Auf die Frage:" Wie gehts?" erhält man oft zur Antwort:„ Koddrig und lustig." Uebrigens ist„ koddrig und lustig Edelmanns Volk".
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In früherer Zeit wurden in den preußischen Städten, z. B. in Königsberg , die Großbürger Junker genannt. Das Wort ist auf uns gekommen, aber der Begriff hat sich verändert: Junker werden von den„ gemeinen Leuten" die Söhne adeliger Gutsherren( nicht bürgerlicher, wie Frischbier irrtümlich sagt) genannt. Die Dienstleute auf dem Lande mußten noch vor wenigen Jahrzehnten eine bestimmte Titular- Ordnung genau beobachten. Der adelige Rittergutsbesizer mußte gnädiger Herr", seine Gemahlin gnädige Frau", die Tochter gnädiges Fräulein", der Sohn gnädiger Junker" genannt werden, ber bürgerliche Rittergutsbesizer„ hochgeehrter Herr", die Ge mahlin„ hochgeehrte Frau" oder„ Madam", die Tochter„ Mam sellchen", der Sohn„ junger Herr". Da auch„ gewöhnliche Frauenzimmer" sich„ Mamsellchen" nennen ließen, und die bürgerlichen Gutsbesizer- Damen den adeligen nichts vorgeben mochten, so wurde wenigstens für die Töchter das„ Fräulein" angenommen. Das Beiwort„ gnädig" wurde noch vor dreißig
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